Das Hirnstammimplantat (ABI) - Wo sind die Grenzen?

von Karin Kestner, 16.07.2003

Eine Uniklinik in Deutschland plant Hirnstammimplantationen an kleinen gehörlosen Kindern!

Immer wieder, immer mehr, gibt es gehörlose Kinder, für die sich Eltern ein Cochlear Implantat wünschen. Doch auch immer mal wieder gibt es Kinder, die eine Cochlear-Missbildung haben oder bei denen der Hörnerv nicht intakt ist und bei denen somit ein CI nicht zum Einsatz kommen kann. Neuerdings wird diesen Eltern von verschiedenen Kliniken, die Möglichkeit der Hirnstammprothese, des ABI (Auditory Brainstem Implant) für die Kinder angeboten.

Kurzbeschreibung des ABI:

Ein Hirnstamm-Implantat (engl.: Auditory Brainstem Implant, ABI) ist ein kleines elektronisches Gerät zur direkten Erregung der Hörnbahn im erste Hörkern im Gehirn, d.h. im Hirnstamm. Ein Hirnstamm-Implantat ist ein modifiziertes Cochlear Implant; im Gegensatz zum Cochlear Implant wird jedoch nicht das Innenohr (Cochlea) elektrisch stimuliert, sondern der erste Hörkern im Hirnstamm. Hierzu wird das eigentliche Implantat unter die Haut hinter die Ohrmuschel eingepflanzt; die Stimulationselektrode wird auf den ersten Hörkern, den Nucleus cochlearis, positioniert. Diese Elektrode besteht aus insgesamt 21 „Knopfelektroden“. Quelle: Uni Regensburg

Zur Erklärung: Das ABI ist für erwachsene Nf2-Patienten (Neurofibromatose Typ2 ) konzipiert und weiterentwickelt worden. Diese Menschen werden durch Tumore an den Hörnerven und deren Entfernung mit der Zeit taub. Das ABI soll ihnen helfen wieder Geräusche wahrzunehmen, manchen hilft es beim Lippenlesen, wenige verstehen ein bisschen Sprache. Aktuell sind weltweit 247 (Angaben ohne Gewähr) erwachsene Patienten mit einem ABI versorgt. In Deutschland sind ca. 25 Erwachsene, aber keine Kinder unter 12 Jahren implantiert worden. Das ABI, von der Firma Cochlear entwickelt, ist in den USA von der FDA (U. S. Food and Drug Administration) bei Jugendlichen ab 12 Jahren zugelassen. Cochlear Amerika Das von MeDel entwickelte Gerät ist in den USA erst ab 15 Jahren zugelassen.

Trotzdem wurden erstmals vor ca. einem Jahr drei gehörlose Kleinkinder im Alter von 2/3/4 Jahren in Verona/Italien von Prof. Colletti implantiert.

Dr. Kuchta, ein implantierender Arzt aus Köln (lange in den USA tätig) schreibt mir: „Erfahrungen mit Kindern bestehen am HEI (House Ear Institute, Los Angeles) nicht. Dies liegt am ehesten an den aufwendigen und für beide Seiten anstrengenden Follow up Untersuchungen und Programmierungen. Hier gibt es von Steve Otto (Auditologe) eher schlechte Erfahrungen mit Jugendlichen“

Hier die Geschichte und wichtige Infos über das Hirnstammimplantates von Dr. Steffen Rosahl vom INI Hannover (Internationales Neurowissenschaftliches Institut) http://www.nf2.de/index-menu.htm?page=abi_rosahl.htm

Thorsten Lütt (selbst ABI-Träger) beschreibt auf der Internet-Seite die Technik und Anpassung: http://www.nf2.de/index-menu.htm?page=abi_1.htm

Dort finden Sie auch seinen Erfahrungsbericht: http://www.nf2.de/index-menu.htm?page=abi_luett.htm

Ich habe mich mit Thorsten Lütt in Verbindung gesetzt, der den Kontakt mit Dr. Steffen Rosahl vom INI Hannover und mir herstellte. Ich wollte so viele Informationen über das ABI bekommen wie mir möglich war, um Eltern auf die Risiken einer solchen Operation aus Sicht eines implantierenden Arztes hinzuweisen.

Ich fragte Dr. Rosahl nach zusätzlichen Risiken bei Kleinkindern. (Zusätzlich bedeutet: mehr Risiken als bei einer Hirnstammoperation bei Erwachsenen)

Hier das Interview von mir Karin Kestner im folgenden KK mit Dr. Steffen Rosahl im folgenden S.R.

KK: Bitte geben Sie mir realistische Aussichten für ein z. B. 3jähriges Kind. Welche Risiken ergeben sich bei der OP?

S.R. Die im Vergleich zum Erwachsenen hinzukommenden Risiken sehe ich vor allem in der deutlich geringeren Dimension und dem Wachstum des Kindes. Bei der Implantation muss man oft den Kanal (Recessus lateralis) aufdehnen, in den die Elektrode eingeschoben wird. Bei kleinen Verhältnissen wird das schwieriger, das Risiko von Blutungen ist leicht erhöht und es können Schäden der Schlucknerven leichter auftreten. Dadurch erhöht sich das Risiko der Lungenentzündung durch Verschlucken von Speiseresten in die Lunge nach der OP (Aspiration) – eine Situation, die ein 3-jähriges Kind möglicherweise nicht toleriert.

KK: Was bedeutet das „nicht tolerieren“,? Was passiert, kann schlimmstenfalls passieren?

S.R Schlimmstenfalls kann eine nicht rechtzeitig erkannte Aspirationspneumonie tödlich verlaufen. Das gilt auch für alle anderen Eingriffe im Bereich des Hirnstamms.

Bei erfolgreicher, komplikationsloser Implantation wird die Elektrode am Hirnstamm bindegewebig umwachsen. Sie sitzt dann dort fest. Zug an der Elektrode führt deshalb auch zu Zug am Hirnstamm – mit dem Risiko entsprechender Symptome.

KK: Welche Symptome sind das? Was kann durch Zug auf den Hirnstamm passieren?

S.R: Schwindel, Kribbeln in Arm und Bein, Gesichtsnervlähmung, Koordinationsstörungen, Doppelbilder, Schluckstörungen, Heiserkeit wären vor allem denkbar. Es muss daher ein Zuleitungskabel eingesetzt werden, welches lang genug ist, um das Wachstum des Kindes auszugleichen. Ein langes Kabel gerät aber leichter unter Druck-Spannung und kann am Anfang dazu führen, dass sich die Elektrode am Hirnstamm verschiebt und dann evtl. keine Stimulation der Hörbahn mehr zulässt. Darüber hinaus führen auch leichte Blutungen nach der OP zu einer Verwachsung des Kabels mit dem Gewebe, so dass es trotz langem Kabel auch zu Zugerscheinungen am Hirnstamm kommen kann.

KK: Welche Risiken sind später zu erwarten, was ist mit einer Reimplantation? Ist sie genauso „einfach“ wie bei einem CI?

S.R: Eine Re-Implantation ist theoretisch denkbar und durch einen sehr versierten Chirurgen auch durchführbar, aber ungleich schwieriger als beim CI.

KK: Theoretisch denkbar, bedeutet, dass noch nie ein ABI reimplantiert wurde?

S.R: Oh doch, bei Erwachsenen musste das schon oft gemacht werden. Das theoretisch denkbar bezieht sich auf die Situation eines Kindes, bei dem das Implantat vielleicht nach 10 Jahren, nach einer langen Wachstumsphase, entfernt werden muss.

K.K: Welche Schäden am Hirnstamm könnten durch eine Reimplantation entstehen, wenn es, wie bei einem Kind nach 10 Jahren Wachstum, verwachsen ist?

S.R: Denkbar sind die gleichen Schäden, wie bei einer Erstimplantation. Zu befürchten ist darüber hinaus, dass durch Vernarbungen und deren Lösung der Hörkern leidet und das neue Implantat daher schlechter oder gar nicht arbeitet.

KK: Also wie verläuft eine Reimplantation?

S.R: Man eröffnet den alten Zugang, löst Verwachsungen zwischen Implantat und Hirnstamm, entfernt das alte und setzt ein neues.

KK: Kann das ABI auch wie das CI zu Schaden kommen?

S.R.: Vor allem kann es sich verschieben. Dann muss man die Lage korrigieren.

KK: Könnte man die Elektroden und Elektrodenträger belassen und mit einem neuen Implantat verbinden?

S.R: Das ist bei den derzeitigen Implantaten nicht vorgesehen. Die Fehlfunktion betrifft allerdings auch meist die Elektroden selbst, so dass man besser die gesamte Einheit auswechselt.

KK: Oder kann man an einer neuen Stelle die Elektroden ansetzen, also Elektroden und Träger zusätzlich einbringen?

S.R: Nein.

KK: Welche „Lebensdauer hat ein ABI?

S.R: Das älteste ABI liegt jetzt seit 22 Jahren.

KK: Was kann am ABI kaputt gehen?

S.R: Elektrodenbrüche sind am gefürchteten, nach Implantation aber eher selten. Infektionen treten seit der Verlegung unter der Haut eigentlich auch nicht mehr auf. Die Geräte sind schon ziemlich robust geworden, eher geht mal der externe Sprachprozessor kaputt – was natürlich ein leicht zu lösendes Problem ist.

KK: Darf ein Arzt hier in Deutschland trotz der FDA Entscheidung (erst ab 12 Jahren) eine solche OP durchführen?

S.R: Weil die Dimensionen des ABI für den Erwachsenen konzipiert sind, ist das Risiko der Fehlstimulation sicher auch ein wenig größer. Schließlich muss man das Wachstum des Kindes in Betracht ziehen und entsprechend mehr „Kabel verlegen“ – und ist sich dennoch nicht sicher, ob auf das am Hirnstamm verwachsene ABI nicht später doch irgendwann Zug ausgeübt wird. Dann verrutscht nicht unbedingt das ABI, sondern der Hirnstamm verzieht sich und kann Schaden nehmen. Auch die Anpassung (Elektrodenaktivierung) bei einem z.B. 3-jährigen ist problematisch. Das sind die Gründe, die die FDA bewogen haben, Implantationen bei Kinder < 12 noch nicht zu genehmigen. Es gibt darüber bisher keine grundsätzliche Entscheidung. Die Methode ist etabliert und wurde bei 3 Kindern durchgeführt – von daher keine Scharlatanerie. Wenn die Eltern des Kindes zustimmen, dann dürften bei korrektem Verlauf für den Arzt keine rechtlichen Schwierigkeiten entstehen. Entscheidungen der FDA sind für den europäischen Raum nicht bindend – sind allenfalls eine hinweisende Richtschnur.

KK: Wie sehen Sie die Probleme in der Therapie und Anpassung?

S.R.: Das Problem der Anpassung ist, weil das Kind ja keine Töne gewöhnt ist. Aber da kann man sich wahrscheinlich, mit einigem Aufwand und Engagement, herantasten. Generell ist der Anpassungsvorgang sehr ähnlich zum CI. Beim CI weiß man aber eher, welche Tonhöhen bei welcher Elektrode zu erwarten wäre. Das ist beim ABI nicht der Fall, so dass man etwas mehr Engagement investieren muss. Das tun die Ärzte, Ingenieure, Wissenschaftler und MTAs in einem solchen Fall aber sicher gern und unbezahlt.

KK: Können Eltern die aufwendige Anpassung bewältigen, sind sie da nicht überfordert?

S.R: Die Eltern spielen in dem Anpassungsprozess ausnahmsweise eine untergeordnete Rolle.

KK: Würden Sie ein Gutachten der Frühförderstelle oder des Jugendamtes anfordern?

S.R: Mit einer solchen Fragestellung, glaube ich, sind die Förderstelle und das Jugendamt wohl überfordert. Da braucht es einen sensiblen Behandler,

(ein Chirurg, der a) genau weiß, mit welchen Komplikationen er rechnen muss und diese vermeiden kann und b) mit Menschen (Patienten) umgehen kann, der seine und die Möglichkeiten der Umgebung des Kindes beurteilen kann.

KK: Würden Sie Eltern abraten? Würden Sie es vorschlagen? Und wie sähe eine Beratung der Eltern bei Ihnen aus?

S.R: Das kann man nur im Rahmen eines direkten Gespräches klären, weil emotionale, rationale, chirurgische und ethische Aspekte eine Rolle spielen.

KK: Und – ist es ethisch noch zu verantworten, den Eltern Hoffnung zu machen?

SR: Ich denke schon. Das Risiko ist nicht zu unterschätzen. Ein sehr guter Operateur muss es schon sein, so dass bei der Implantation nichts passiert. Bei einem erfolgreichen Verlauf kann das Kind aber vielleicht wirklich die Welt der Töne einmal erleben, vielleicht sogar ein wenig Sprache entwickeln. Das ist es, was sich Eltern wohl denken, wenn sie einen solchen Eingriff befürworten. Die Entscheidung bleibt schwierig, weil es sich eben um eine bei Kleinkindern neue und zudem invasive Methode handelt. Das Risiko übersteigt aber nach meiner Einschätzung nicht den ethisch vertretbaren Rahmen.

KK: Vielen Dank Herr Dr. Rosahl für Ihre Geduld und Ihre Antworten, und dass ich das Interview veröffentlichen darf.

Ich habe lange überlegt, ob ich mich überhaupt mit dem Thema ABI beschäftigen, das geführte Interview veröffentlichen und Eltern dies Thema überhaupt antragen soll. Da aber von Seiten einiger Kliniken das Thema angesprochen und Eltern noch diese allerletzte Hoffnung gemacht wird, den Kindern etwas „Hören“ zu geben und im Internet auch nur wenig zu dem Thema zu finden ist, habe ich mich dann doch dazu entschlossen.

Kommentar Karin Kestner:

Ich frage mich in dem Zusammenhang, ist es noch ethisch vertretbar, Eltern diese Operation anzutragen? Könnte Eltern das „Hören von Geräuschen“ bei ihren Kindern so wichtig sein, dass sie möglicherweise einer solch risikoreichen Operation zustimmen könnten? Ist der Druck der Gesellschaft schuld, dass immer vehementer gegen die Gehörlosigkeit vorgegangen wird und das in einer Zeit in der die DGS anerkannt, ein Gleichstellungsgesetz verabschiedet und Barrierefreiheit nach und nach eingeführt werden soll? Nicht mehr die Behinderten/Gehörlosen sollten sich der Gesellschaft anpassen, die Anpassung sollte umgekehrt stattfinden. Ist etwas „Hören“, ein wenig „Sprache“, für einen Zeitraum von 10-20 Jahren so wichtig? Was passiert nach einer missglückten Reimplantation, wenn kein Hören mehr möglich werden kann? Ist es sinnvoll, ohne realistisch große Chance für das Kind Lautsprache zu lernen, eine solche Operation durchführen zu lassen? Und das alles Angesichts der Tatsache, dass es durchaus glückliche Lebensläufe Gehörloser gibt? Arbeiten Ärzte hier zum Wohle der Familien oder für die Industrie und Forschung? Brauchen nicht die Familien viel eher emotionale Unterstützung auf ihrem Weg mit dem gehörlosen Kind? Müssten Ärzte hier nicht erkennen, dass ein „Nein, nicht alles was medizinisch machbar ist, ist auch für den Menschen eine Hilfe!“, der bessere Weg wäre? Wird nicht hier die Bedeutung des „Hörens“ unvorstellbar überbewertet? Wird hier Eltern suggeriert, dass das Risiko einer solchen Operation noch in positiver Relation zum Nutzen steht? Eine solche Operation ist nicht lebenserhaltend, wie z.B. eine Herztransplantation, die auch mit hohen Risiken verbunden ist, sondern setzt das Leben eines Kindes bei schlechtem Verlauf vielleicht sogar aufs Spiel.

Ziel der Cochlear Implantation war immer die Integration durch Lautsprache und Sprechen in die hörende Gesellschaft, was auch nur zu einem gewissen Prozentsatz glückt. Was aber ist das Ziel der ABI Implantation? Wie weit geht unsere Gesellschaft noch im Umgang mit Behinderung und Andersartigkeit?

Karin Kestner

Weiterführende Infos

Hier die Stellungnahme des Bundeselternverbandes gehörloser Kinder zum Thema ABI

Hier die Stellungnahme von Thorsten Lütt (ABI-Träger)

Penetrating the Secrets of the Cochlear Nucleus

AUDITORY BRAINSTEM IMPLANT APPROVED BY FDA

weitere Berichte zum ABI aus 2004 und 2005

weitere Berichte zum Hirnstammimplantat bei Kindern aus 2006

Geplante Hirnstammimplantation in der MHH (2004)

Erste OP in der MHH (2006)

Horror oder Hilfe (pdf der Radiosendung zum ABI)

 

Anmerkung: Frau Kestner ist 2019 verstorben