Gebärdensprache fördert die Lautsprachentwicklung

von Tiemo Hollmann, 1.3.2006

Gebärdensprache fördert die Lautsprachentwicklung

Junge Eltern, die mit der Diagnose ihr Kind sei hörgeschädigt konfrontiert werden, sehen sich schlagartig mit einer Vielzahl von neuen weiteren Themen konfrontiert: Hörkurven, Hörtests, Spracherwerb, Hörgeräte, Gebärdensprache, Cochlea Implantat, Frühförderung, Schulen, etc. Viele Entscheidungen müssen für die Familie und das Kind getroffen werden.

Dabei werden sie regelmäßig von Seiten der Ärzte, Frühförderern und Pädagogen einseitig mit Informationen versorgt. Aus verschiedenen Gründen heißt die landläufige Empfehlung an die Eltern, sie müssten ihr Kind so schnell wie möglich mit einem Cochlea Implantat versorgen lassen und ausschließlich lautsprachlich fördern. Dies sei die einzige Chance, dass ihr Kind in die Regelschule gehen könne und „normal“ werde. Eine rein lautsprachliche Förderung heißt in der Praxis aber auch heute noch, einen großen Teil der Zeit mit Lippenablese- und Artikulationsübungen zu verbringen, ohne vollständige Kommunikation und Wissenserwerb. Die Kinder werden in der Mehrheit der Hörgeschädigten-Schulen seit dem Mailänder Kongress von 1880 ausschließlich lautsprachlich unterrichtet und die Verwendung von Gebärdensprache wird abgelehnt.

Nicht jedes Kind erreicht ein gutes Sprachverständnis

Da sehr viele Worte das gleiche Mundbild haben, (Mutter – Butter) können nur max. 30% des Inhaltes über Lippenablesen vermittelt werden. Dies führt in der Konsequenz bei hörgeschädigten Kindern zu Bildungsdefiziten, die von einigen Eltern in aufopferungsvoller Nacharbeit ausgeglichen werden müssen. Nur eine Minderheit der Kinder mit Cochlea-Implantat erreicht ein gutes Sprachverständnis, geschweige denn ein offenes Sprachverständnis (ohne jegliche andere Kommunikations-Unterstützung). So verbleiben auch von diesen Kindern nur 30% in den angestrebten Regelschulen, die Mehrheit geht aber auf Hörgeschädigten-Schulen. Lesen Sie dazu auch: Hörgeschädigte Kinder brauchen zwingend Gebärdensprache.

Von den meisten „Fachleuten“ wird die Gebärdensprache und deren Einsatz in der Frühförderung und Schule bestenfalls ignoriert, oft jedoch sogar aktiv untersagt, bzw. den Eltern vehement davon abgeraten. Der von allen Seiten gebetsmühlenartig wiederholte Grund dafür ist die angebliche Behinderung der Lautsprachentwicklung durch die Verwendung von Gebärdensprache. Die Kinder würden sprachfaul, sie könnten die Lautsprache nicht lernen und mangels dieser nicht in die hörende Gesellschaft „integriert“ werden.

Zitat von Frau Monika Lehnhardt (Cochlear Europe, Basel) „Kinder, die nach der CI Versorgung weiter eine Schule besuchen, in der die Gebärdensprache als Kommunikationsmittel verwendet wird, werden nicht wirklich vom CI profitieren, mit Ausnahme der Wahrnehmung von Umweltgeräuschen.“ *7)

Der Hintergrund für diese überaus schädlichen Empfehlungen ist vielfältig. Bei den Frühförderern und Pädagogen haben wir es oft mit „Das haben wir schon immer so gemacht!“ zu tun. Individuelles Engagement anzutreffen, neue pädagogische Konzepte zu suchen und umzusetzen ist ein Glücksfall. „Der Lehrplan sieht das nicht vor!“ „Dafür haben wir kein Budget.“ Die Folge: Nur 10% der hörgeschädigten Pädagogen unterrichten mit DGS-Kenntnissen an den Hörgeschädigten-Schulen.

Gebärdensprache ist kein Konkurrent zur Medizin

Für die Mediziner ist die Gebärdensprache unbegreiflicher Weise meist ein „Konkurrent“ und kein nützliches Instrument auf dem Technik-orientierten Weg der Schulmedizin. Die Auseinandersetzung mit Gebärdensprache wird meistens als unnütz oder sogar dem medizinischen Weg abträglich angesehen. Den Eltern wird daher vom Gebrauch der Gebärdensprache aktiv abgeraten und sie teilweise massiv eingeschüchtert, „Die Kinder werden nie in die Lautsprache kommen“. Nicht zuletzt müssen die profitablen Spezialabteilungen der Kliniken entsprechend der budgetierten Operationszahlen immer ausgelastet werden und da ist Gebärdensprache in Verbindung mit einer möglichen Entscheidung gegen eine Implantation eben ein betriebswirtschaftlicher „Konkurrent“. Erst wenn der Lautspracherfolg sich auch nach 4 oder 6 Jahren immer noch nicht eingestellt hat, wird vielleicht lapidar ein „letzter Rat“ gegeben, „versuchen sie es doch mal mit Gebärden“. Doch dann sprechen wir über verlorene und kaum noch wieder gut zu machende 4 oder 6 Jahre, in denen den Kindern eine vollständige Kommunikation fahrlässig vorenthalten wurde und sie nur einseitig lautsprachlich erzogen wurden.

Der medizinische Weg wird zudem durch den finanzkräftigen Lobbyismus der Cochlea-Implantat Industrie unterstützt. Welche Lobby hat dagegen schon eine (Gebärden-)Sprache? Welcher Journalist interessiert sich schon für die Defizite in der gebärdensprachlichen Förderung von gehörlosen Kindern in Deutschland, wenn er auf der anderen Seite über die aufwändige Implantation eines elektronischen Wunderwerkes bei einem gehörlosen Kind berichten kann?

Und nicht zuletzt ist da noch der auf den ersten Blick verständliche Wunsch vieler Eltern, die ihr Kind gerne „normal“ hätten. Ein Cochlea Implantat kann gute Erfolge bringen. Es gibt zahlreiche Beispiele von Kindern, die nach der Implantation zu einem guten Spracherwerb gefunden haben, aber auch unzählige Beispiele von Kindern, die nur Geräusche hören oder das CI irgendwann wieder ablegen. Für Jugendliche und Erwachsene, die spätertaubt sind und schon ein Hören hatten, an das sich ihr Gehirn „erinnert“, kann das CI hilfreich sein.

Worum es aber heute geht, ist die völlig überholte Lehrmeinung „Gebärdensprache behindert die Lautsprachentwicklung“ aus der Verkrustung von Ideologie, Eitelkeiten und Ignoranz herauszuholen. Es geht darum, auf breiter Front die positive Auswirkung von Gebärdensprache anzuerkennen und den Einsatz von Gebärdensprache zu fördern. Unabhängig davon, ob die Eltern sich später noch zusätzlich für das CI entscheiden oder nicht. Und dies gilt für alle in der medizinischen Betreuung, Frühförderung und Beratung bis hin zu den Hörgeschädigten-Pädagogen, deren Professoren und den von den Kultusministerien vorgegebenen Unterrichtsrichtlinien.

Die Wissenschaft beweißt es

Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen und zahllose Erfahrungen von Eltern zeigen heute eindeutig, dass der Einsatz von Gebärdensprache und der frühen Babyzeichen die Lautsprachentwicklung fördert und nicht behindert! Unabhängig von diesem Ergebnis hat der Einsatz der Gebärdensprache den unschätzbaren Vorteil, dass die Eltern von Anfang an eine vollständige Kommunikation mit ihrem Kind haben, eine emotionale Bindung aufbauen, auf Wünsche und Bedürfnisse eingehen und später (fortgesetzt durch gute Pädagogen) auch Wissen vermittelt werden kann. Kinder, die mit Gebärdensprache aufwachsen, erreichen den gleichen Entwicklungs- und Bildungsstand gleichaltriger hörender Kinder.

Gleichzeitig wird den Eltern der Druck einer möglichst schnellen Entscheidung für oder gegen eine CI-Operation genommen, da es keinen Grund gibt, ein Baby mit 6 oder12 Monaten implantieren zu müssen. Die Kommunikation ist sichergestellt! Viele amerikanische Studien zeigen, dass Kinder die erst mit 4-5 Jahren implantiert wurden, die gleichen Sprach- und Kommunikationsfähigkeiten entwickeln, wie Kinder, die mit 12 oder 18 Monaten implantiert wurden, solange sie von Anfang an mit Gebärdensprache aufgewachsen sind. Grundkenntnisse in Gebärdensprache können in zwei Jahren gelernt werden, Eltern können gemeinsam mit ihrem Baby mit Gebärden beginnen und sich zusammen mit ihren Kindern gebärdensprachlich weiterentwickeln. Viele Studien zeigen, dass die Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit und der Sprachentwicklung umso besser ist, je früher dem Kind Sprache angeboten und vermittelt wird. Vergleiche Prof. Gisela Szagun und Dr. Kristin Snodden. Genau diese wissenschaftliche Forderung wird durch den Einsatz von Gebärdensprache erreicht, nicht durch ein möglichst frühes Implantieren mit fragwürdigem und ungewissem Erfolg!

Gehen Sie den für Sie und Ihr Kind passenden Weg, lassen Sie sich nicht einseitig beraten und verunsichern! Entscheiden Sie in Ruhe und ohne sich Druck zu machen oder machen zu lassen!

Nachfolgend finden Sie einige Zitate aus verschiedenen Berichten, die die Unsinnigkeit und Überholtheit der deutschen Lehrmeinung belegen. Alle Quellen sind aus Amerika, wo die Entwicklung und Forschung weiter ist, als bei uns. Die Ergebnisse sind aber natürlich auf Europa und damit auf Sie zu übertragen.

Tiemo Hollmann

Zitate:

„Gebärdensprache kann für viele gehörlose Kinder kurz- und langfristig ein wichtiger Bestandteil der Kommunikations-Vermittlung sein, auch wenn die Lautspracherziehung im Vordergrund steht.“ *1)

„Bei Familien, die Gebärdensprache für eine frühe Kommunikation verwenden, gibt es keine Anzeichen einer geringeren lautsprachlichen Entwicklung des Kindes.“ *1)

„Um gehörlosen Kindern eine maximal mögliche Kommunikationsfähigkeit und Sprachkompetenz zu ermöglichen, ist es unentbehrlich, den jungen Kindern einen Zugang zu Sprache (auch Gebärdensprache) zu geben.“ *1)

„In der beobachteten Gruppe von Kindern gab keine Anzeichen dafür, dass die Verwendung von Gebärdensprache nachteilige Auswirkungen (auf die Lautsprachentwicklung) hatte, weder vor, noch nach der Cochlea Implantation.“ *2)

„Bei dem Kind mit dem schnellsten Spracherwerb wurde der Gehörverlust sehr früh festgestellt (12 Monate) und Gebärdensprache vor und nach der Implantation eingesetzt. Mit 30 Monaten entsprach das gesprochene Vokabular dem typischen Maß bei hörenden Kindern.“ *2)

„Kinder, die „Total Communication“ (Gebärden- und Lautsprache) erhielten und früh implantiert wurden, erreichten einen deutlich höheren aktiven Wortschatz, als die Kinder der Vergleichsgruppe mit „Oral Communication“ (nur Lautsprache). … Es gibt auch keine signifikanten Unterschiede im Erwerb der Konsonanten-Aussprache, bei Kindern, die bis zum 5. Lebensjahr implantiert wurden.“ *3)

„Durch Babyzeichen / Gebärden können sich alle Babys schon ab dem 6. Monat verständlich machen und so ihre Bedürfnisse früh äußern. Dadurch können Sie schon mit Ihrem Kind früher kommunizieren, als durch Lautsprache.“ *4)

„Die Verwendung von Babyzeichen bei Babys und der weitere Einsatz der Gebärdensprache bei hörenden Kleinkindern fördert das Lesen und den Schriftspracherwerb. Es fördert das Selbstbewusstsein und die Zufriedenheit der Babys und Kleinkinder, weil sie ihre Bedürfnisse äußern können und nicht mehr soviel schreien müssen.“ *4)

„Gebärdensprache fördert bei hörenden Kindern ab dem 6. Monat die Kommunikationsfähigkeit und den Lautspracherwerb. Sie fördert den aktiven und passiven Wortschatz und hilft dem Kind die Brücke zu bauen, zwischen dem „Verstehen“ der Sprache und dem „selbst ausdrücken“ können. Die Vorteile des Gebärdenspracheinsatzes setzen sich auch bei Kleinkindern bis zum 5 Jahr fort.“ *5)

„Die Verwendung von Gebärdensprache bei Kindern mit Entwicklungsstörungen fördert deren Fähigkeit zu sprechen. Eine mögliche Erklärung ist die Anregung des Sprachzentrums durch zwei Quellen (Gebärden und Lautsprache). Gebärdensprache hilft Kindern mit Autismus und anderen Entwicklungsstörungen. Viele mit Entwicklungsstörungen einhergehende Symptome, wie Selbstverletzung, Wutanfälle, Angst, Depression werden oft durch die Unfähigkeit einer Kommunikation verursacht. Gebärdensprache bei autistischen Kindern und Kindern mit anderen Entwicklungsstörungen, stört nicht den Spracherwerb. Es gibt eindeutige Forschungsergebnisse, die zeigen, dass der Einsatz von Gebärdensprache, zusammen mit Lautsprache sogar die Lautsprachentwicklung beschleunigt.“ *6)

Quellen:

*1) Language and communication modality as predictors of outcomes in deaf children receiving cochlear implants before three years age. Jennifer Johnston, Department of Otolaryngology and Communication disorders, Childrens Hospital Boston, 2005

*2) Language growth of very young children using a cochlear implant. Patricia E. Spencer & Elisabeth Barker, Society for Research in child development, Atlanta, Georgia, April 2005

*3) Speech, Vocabulary, and the Education of Children Using Cochlear Implants: Oral or Total Communication? Carol McDonald Connor, Sara Hieber, H. Alexander Arts, Teresa A. Zwolan, University of Michigan, Ann Arbor, veröffentlicht in: Journal of Speech, Language, and Hearing Research, Okt. 2000

*4) Dancing with Words: Signing for Hearing Children’s Literacy, Marilyn Daniels, 2000

*5) The Benefits of Teaching Sign Language to a Hearing Baby or Child, Diane Ryan, 2005

*6) Signed Speech for Children with Developmental Disorders, J. Cyne topshee Johnston, Andree Durieux-Smith, University of Ottawa, Kathleen Bloom, University of Waterloo, 2004

*7) Qualifikation von pädagogischen Fachkräften in der Hörgeschädigtenförderung (EU-Projekt QESWHIC 2003)