Bundesweites Neugeborenen-Hörscreening (NHS)

von Karin Kestner, 11.07.2008

 

Ist diese Maßnahme sinnvoll?

Voraussichtlich wird am 1.1. 2009 das Neugeborenenhörscreening (NHS) bundesweit eingeführt und die Kosten werden von den Krankenkassen bezahlt werden müssen. „Super“, werden die einen sagen, endlich bekommen die Eltern frühe Kenntnis über mögliche Hörschäden ihres neugeborenen Babys, andere sind eher skeptisch.

Was ist das NHS?

NeugeborenesDas NHS wird mittels einer OAE vorgenommen und soll gleich nach der Geburt eine mögliche Hörminderung beim Baby feststellen. Eine OAE gibt aber leider keine Sicherheit, sie gibt nicht an, ob ein Kind richtig gut oder schlecht hört. Es kann nur, wie das dazugehörige Aufklärungsblatt / Merkblatt für Eltern angibt, weitestgehend ausgeschlossen werden, dass eine Hörminderung oder Taubheit vorliegt oder umgekehrt eine Hörminderung möglicherweise vorhanden ist. Es ist also keine Diagnose, sondern nur ein „Siebverfahren“, um möglichst alle Kinder mit Hörminderung frühzeitig zu erfassen.

Aber es gibt falsch negative Ergebnisse und falsch positive Ergebnisse!

Sollte die OAE keine Hörminderung anzeigen, können Eltern davon ausgehen, dass ihr Kind gut hört, sollten es aber weiter beobachten und falls etwas auffällig erscheint, es dem Kinderarzt mitteilen. Eine OAE gibt keine Sicherheit!

Die Kinder mit auffälliger OAE müssen anschließend noch einmal per OAE überprüft werden und falls die zweite OAE erneut zum Ergebnis „Hörminderung„ führt, wird Eltern angeboten, so schnell es geht, (meist vergehen 3 Monate) sich zu einer weiteren Abklärung, mittels einer BERA auch AABR genannt, zu melden.

Nach einer BERA folgen dann eventuell weitere diagnostische Untersuchungen, um den Ort der Hörminderung festzustellen. (Innenohr- oder Mittelohrschwerhöigkeit oder Taubheit durch Störungen in der Weiterleitung nach der Cochlea).

Zahlen und Fakten

Hier einige Fakten und Zahlen entnommen aus dem Abschlussbericht (4) des Gemeinsamen Bundesausschusses, der sich seit vielen Jahren mit dem Thema beschäftigt. Für ein UNHS ließe sich für Deutschland folgende Abschätzung aufstellen: 2005 wurden nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 686.000 Kinder geboren (5). Bei einer Prävalenz (Häufigkeit der Störung) von Hörstörungen von 0,12 Prozent wären darunter 823 Kinder mit Hörstörungen zu erwarten.

Unter der Annahme einer Sensitivität (*1) von 90 Prozent und einer Akzeptanz der Untersuchung von 95 Prozent würden 704 dieser 823 Kinder in einem UNHS mit einer Hörstörung identifiziert (richtig-positiv), 119 Kinder (15 %) mit einer Hörstörung würden nicht entdeckt.

Das Programm hätte für die hörgesunden Kinder folgende Konsequenzen: Bei einer Beteiligung von 95 Prozent würde an 645.183 hörgesunden Kindern eine Untersuchung vorgenommen, von der sie keinen Nutzen haben. Bei einer Spezifität (*2) von 98 Prozent würden 12.904 Kinder einen falsch-positiven Befund erhalten, also als „hörgeschädigt“ herausgefiltert werden.

Insgesamt müssten 13.608 (12.904 plus 704) Kinder mit einem positiven Befund einer weiterführenden Diagnostik unterzogen werden, (siehe oben) um letztendlich die 704 Kinder mit einer tatsächlichen Hörstörung zu identifizieren. 12904 Eltern werden verunsichert und machen sich unnötig Sorgen, bis das Gegenteil sicher diagnostiziert ist, das belastet die Eltern-Kindbeziehung nachhaltig. (Hintermair – Hörpäd Mai 2008)

Das bedeutet im Klartext:

Von zu erwartenden 686.000 Kindern pro Jahr werden ca. 645.183 Kinder untersucht. 13.603 Eltern von Kindern bekommen nach der OAE das Ergebnis „mögliche Hörstörung„ Am Ende bleiben 704 Kinder übrig, die einen Hörschaden von ca. 35 db und mehr bis hin zur Taubheit haben können. Eine OAE kostet ca 17,47 Euro. 645.183 Kinder mal 17,47 Euro bedeutet 11.271.347,01 Euro Zusätzlich 13.608 Kinder mit nochmaliger OAE summieren sich auf 237.731,76 Euro pro Jahr! Die Gesamtsumme bis zum Erkennen das tatsächlich eine Hörstörung unbekannten Ausmaßes vorliegt, ist 11.509.078,86 Euro pro Jahr plus Kosten einer weiterführenden Diagnostik, die von Kind zu Kind unterschiedlich sein kann. (3)

Screening ablehnen und später nachholen

Hörscreening bei BabyStudien aus den USA geben an, dass die OAE am ersten und zweiten Tag nach der Geburt sehr hohe Fehlerquoten aufweist, und demzufolge werden die meisten Kinder in den USA erst nach dem 3. Tage gescreent. (4) Auf die Verbesserung der Messergebnisse durch ein Screening frühestens am zweiten Tag wiesen Koch (1) et al. und Reuter (2) et al. hin. Sie konnten zeigen, dass erst ab dem viertem Lebenstag bei allen Säuglingen OAE nachweisbar waren.

Eltern können das Screening ablehnen, wenn sie das Gefühl haben, dass diese unsicheren Ergebnisse der OAE zu einer emotionalen Belastung führen könnten. Niemand kann Eltern dazu zwingen den Test sofort machen zu lassen. Eltern können zu jeder Zeit den Test nachholen lassen. Eine spätere OAE hätte den Vorteil, dass die Werte einer auffälligen OAE sofort mit einer BERA bestätigt oder entkräftet werden können. Eltern müssten nicht wochenlang auf einen Termin zur Überprüfung warten und auch nicht unnötige Ängste ausstehen. Meist merken Eltern eine Hörminderung viel früher als Ärzte dies wahrhaben wollen. Oft sind nämlich die Ärzte schuld, wenn eine besorgte Mutter mit Worten wie . „Das wächst sich aus.“ heimgeschickt wird und ein Kind nicht diagnostiziert wird.

Erfahrungen einer Mutter mit dem Hörscreening

Was nutzt ein Hörscreening also?

Zum einen wird eine Diagnostik angefangen, die Eltern nach ca. 4-6 Monaten Aufschluss gibt, welche Hörminderung vorhanden ist und die Kinder können mit Hörgeräten versorgt werden. Die Frühförderung der Kinder kann beginnen. Jetzt sollten Eltern aufgeklärt werden, dass es nicht nur die Hör-Sprachförderung, sondern auch Förderung aller Sinne und besonders die Förderung in Gebärdensprache wichtig ist. . Bei leicht schwerhörigen Kindern kann es eine reine Hör-Sprachförderung sein. Wichtig ist auch zu erwähnen, dass sich eine geringe Hörstörung bei so kleinen Babys noch erheblich verbessern kann. Die Hörnervenreifung findet noch bis mindestens zum 2. Lebensjahr und länger statt. Es kann sich also noch aus einem leicht schwerhörigen Kind ein normal hörendes Kind entwickeln.

Es muss auch erwähnt werden, dass eine BERA, von Gerät zu Gerät, Abweichungen von bis zu 15 db haben kann, somit ist in dem jungen Alter der Babys von technischer Seite keine sichere Diagnose zu erwarten. Die Gefahr besteht, dass Eltern sich unnötige Sorgen machen, besonders Mütter sind in den ersten Wochen nach der Geburt sehr sensibel. Deswegen noch einmal der Hinweis, dass eine OAE und auch eine BERA nicht zu 100 % sichere Ergebnisse liefern. Hörbahnen reifen in den ersten beiden Lebensjahren und länger.

Hat das Kind eine größere Hörminderung (spätestens ab 60 db), sollten Eltern auf jeden Fall auch Gebärdensprache mit ihrem Kind lernen. Sie unterstützt die gesamte Entwicklung und insbesondere die sprachliche Entwicklung der Kinder. Auch wenn sich die Werte noch verbessern können; die ersten Jahre sind sehr wichtig für ein Kind, es braucht eine sichere Kommunikation. Die Gebärdensprache kann eine vollständige Kommunikation in der Familie sicherstellen. Sie stärkt auch das Selbstbewusstsein der Kinder und hilft ihnen am familiären Leben voll teilzuhaben.

Eltern sollten sich nicht verunsichern lassen und nicht zu früh in eine Cochlea Implantat Versorgung einwilligen, die gern schon ab 6 Monaten und einer Hörminderung von 70 db von Ärzten angeboten wird. Eltern sollten die Reifung der Hörbahnen in Ruhe abwarten und die Kinder in der Zeit mit Hörgeräten versorgen lassen. Auch das Hören mit Hörgeräten hilft die Hörbahnreifung zu unterstützen. Gegenteilige Aussagen sind falsch! Bei Werten um die 70-95 db ist mit Hörgeräten auch eine Lautsprachentwicklung zu erwarten, unterstützt mit Gebärdensprache sogar besser und schneller. Gebärdensprache gibt Eltern die Sicherheit, auch bei einer eventuell später auftretenden Hörverschlechterung eine Kommunikationsbasis zu haben und den Kindern auch eine Schulbildung mit Gebärdensprachdolmetschern zu sichern. Denn auch Cochlea Implantate geben keine Garantie für gute Hör- und Sprachergebnisse.

Fazit:

Das Screening ist unsicher. Das Screening ist freiwillig und kann abgelehnt werden. Die Alternative ist die Hörfähigkeit nach 3 – 4 Monaten überprüfen zu lassen und anschließend bei Bedarf eine sofortige BERA machen zu lassen. Ergebnis, kein Stress, keine unnötigen Sorgen, keine Verzögerung bis zu Diagnose, kein Druck und eine ungestörte Bindung zum Kind.

 

Meine Hörgeräte Tipps:

gute digitale Hörgeräte (z.B. Phonak Naida SP und UP Geräte: http://www.naida.phonak.com/en/products/adult/ Resound: http://www.gnresound.de/produkte/sparx.htm 

Gebärdensprache:

Frühförderung mit Gebärdensprache, Kurse in Gebärdensprache, Tommys Gebärdenwelt 1- 3 für die Kinder / Beantragung über die Krankenkasse

Quellen:

1 ) Koch A, Kiefer A, Klein B, Delb W: Die Otoakustischen Emissionen – Ein Screening-Verfahren zur Früherkennung kindlicher Hörstörungen. Eur Arch Otorhinolaryngol (1992), 2: 77-78

2 ) Reuter G, Hemmanouil I, Weastphal O, Mitschke A: Neugeborenen- Hörscreening: Ein Vergleich von OAE und Hirnstammpotentialmessungen. Z Audiol (2000), 2: 106-108

3) Eva Fucik; Dissertaion http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2006/2383/pdf/Doktorarbeit_final.pdf

4 ) Abschlussbericht IQWiG: http://www.iqwig.de/download/S05-01_Abschlussbericht_Frueherkennungsuntersuchung_von_Hoerstoerungen_bei_Neugeborenen.pdf

5) Statistisches Bundesamt: http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/

Fußnoten:

(*1) Die Sensitivität eines diagnostischen Testverfahrens gibt an, bei welchem Prozentsatz erkrankter Patienten die jeweilige Krankheit durch die Anwendung des Tests tatsächlich erkannt wird, d.h. ein positives Testresultat auftritt. Sie wird definiert als der Quotient aus richtig positiven Testergebnissen und der Summe aus richtig positiven und falsch negativen Testergebnissen.

(*2) Die Spezifität bezeichnet die Fähigkeit, tatsächlich Gesunde als gesund zu identifizieren.

Anmerkung: Frau Kestner ist 2019 verstorben