Elternhilfe - Leitfaden Frühförderung und Regelschule

von Karin Kestner, 12.12.2010

Kinder Regelschule

Leitfaden für Eltern gehörloser Kinder von der Geburt bis zur Einschulung in die Regelschule

Seit ein paar Jahren wenden sich immer öfter Eltern an mich, die nicht nur ihr Kind gebärdensprachlich fördern möchten, sondern ihre Kinder auch in die Regelschule mit Dolmetschern schicken möchten, weil die Qualität vieler Hörgeschädigtenschulen absolut unbefriedigend ist. Bis heute wird in den meisten Hörgeschädigtenschulen kein Unterricht in Gebärdensprache angeboten und nur Wert auf Hören- und Sprechen-Lernen gelegt und dadurch viel zu wenig Wissen vermittelt.

Zurzeit (Ende 2010) beantragen deswegen 13 Familien in verschiedenen Bundesländern die Übernahme der Kosten für Dolmetscher im Unterricht an Regelschulen. Alle diese Familien bitten mich um Hilfe. Die Fülle der Hilfegesuche kann ich leider nicht mehr alleine bewältigen, denn jeder Fall ist individuell und das bedeutet, dass es sehr zeitaufwendig ist. Deswegen veröffentliche ich hier für alle Eltern einen Leitfaden mit Anträgen und Gesetzen. Ich hoffe so, dass die Eltern Anträge und Widersprüche zum größten Teil selbst, oder mit Hilfe eines Anwalts für Sozialrecht, bewältigen können.

Geburt und Diagnose

Es beginnt meist alles mit dem Hörscreening!  Sollte sich die Diagnose schwerhörig oder taub nach weiteren Untersuchungen wie BERAs bestätigen, können Sie bei der Krankenkasse Tommys Gebärdenwelt beantragen, um unabhängig vom weiteren Weg so früh wie möglich eine Kommunikation mit Ihrem Kind aufzubauen. Die Krankenkassen übernehmen in der Regel die Kosten für Tommys Gebärdenwelt! Das gilt übrigens auch, wenn sie sich später für eine CI-Implantation entscheiden sollten. Unterdessen ist es wissenschaftlich nachgewiesen, dass der frühe Einsatz der Gebärdensprache die spätere Lautsprachentwicklung von Kindern nicht behindert, sondern im Gegenteil, ihre Entwicklung fördert, siehe auch die neueste Studie von Prof. Dr. Gisela Szagun.

Frühförderung über persönliches Budget

Frühförderung (FF) steht Ihrem Kind auch zu. Möchten Sie gebärdensprachliche und lautsprachliche Förderung, so können Sie diese von der Frühförderung einfordern. Auch gehörlose und schwerhörige Eltern mit Kindern haben einen Anspruch auf Frühförderung ihrer hörenden Kinder, wenn die Kinder keine Lautsprache von ihnen lernen können. Diese Kinder zählen auch zu den förderungswürdigen Kindern, da sie von Behinderung (Sprachentwicklungsverzögerung oder kognitiver Entwicklungsverzögerung) bedroht sind.

Es gibt aber leider noch kaum gebärdensprachkompetente Förderer. Sollte in der Frühförderung in Ihrer Nähe keine Förderin Gebärdensprache beherrschen, können Sie sich eine Förderin Ihrer Wahl suchen und ein persönliches Budget statt der Sachleistung FF beantragen.Zunehmend beklagen aber Eltern, dass die Frühförderer statt der vereinbarten und bewilligten 5 Termine nur 1 oder 2 Termine wahrnehmen. Begründung ist stets: Wir sind überlastet und können nicht öfter kommen. Andere Eltern beklagen, dass die Frühförderer nicht auf ihre Wünsche eingehen und den Kindern kein DGS oder LBG anbieten und sie so nicht ganzheitlich gefördert werden. Gehörlose Eltern beklagen oft, dass die Förderer keine Gebärdensprache beherrschen und ihnen nicht die Entwicklungsschritte des Kindes oder auch die Unterstützungsmöglichkeiten für das Kind erläutern können. All diesen unzufriedenen Eltern steht die Möglichkeit offen, die Frühförderung-Sachleistung in eine Geldleistung als persönliches Budget umwandeln zu lassen. Mit diesem Geld können private Frühförderer bezahlt werden.

Wer darf frühfördern? Zum Beispiel:

  • Gebärdensprachdolmetscher mit, aber auch ohne Zusatzqualifikation im Bereich sprachliche Förderung
    (es genügen auch ein oder zwei Lehrgänge zur Sprachentwicklung, die in verschiedenen Institutionen angeboten werden)
  • Heilpädagogen mit guten Gebärdensprachkenntnissen
  • Erzieherinnen mit guten Gebärdensprachkenntnissen
  • Logopäden mit guten Gebärdensprachkenntnissen
  • Ergotherapeuten mit guten Gebärdensprachkenntnissen
  • Aber auch andere Menschen mit guten Gebärdensprachkenntnissen aus Ihrem Bekanntenkreis, die kinderlieb sind und Ihr Vertrauen genießen.

Sie haben die freie Wahl!

Hier finden Sie Beispielanträge für Frühförderung.

Im Moment entsteht ein bundesweites Netzwerk von gebärdensprachkompetenten Frühförderern, die Quietschehände die über persönliches Budget (§ 29 SGB IX BTHG) bezahlt werden. Im März 2011 wird für über 20 Frühförderer aus verschiedenen Bundesländern eine Qualifizierungsmaßnahme gestartet. Ab April 2011 stehen die Förderer zur Verfügung. Die Eingliederungshilfe muss das persönliche Budget genehmigen. Bei Antragsstellung wird Ihnen von den Frühförderern selbstverständlich geholfen.

Sie können auch einen Hausgebärdensprachkurs durch einen tauben Dozenten bei der Eingliederungshilfe/Sozialamt – einkommensunabhängig – beantragen: Rechtsvorschrift: § 4 SGB IX BTHG Nr. 1 und § 5 SGB IX BTHG Nr. 4 & 5 in Verbindung mit § 75 SGB IX BTHG Nr. 1, §§ 81 & 82 SGB IX BTHG, § 99 SGB IX BTHG und §§ 53 & 54 SGB XII

Sollten Sie als Eltern spät angefangen haben Gebärdensprache zu lernen und Sie verstehen Ihr Kind nicht, können nicht in Gebärdensprache erklären und erziehen, so können Sie beim Jugendamt einen tauben Familienhelfer beantragen. Rechtsgrundlage: § 1 Abs. 3 Nr. 2, 3 SGB VIII, § 27 SGB VIII. Im SGB VIII heißt es: Sind Eltern nicht in der Lage, diese (Pflege und Erziehung) Pflicht zum Wohl des Kindes zu erfüllen, ist der Staat verpflichtet, Eltern und Kinder durch geeignete Hilfen und andere Maßnahmen zu unterstützen. Dies wird durch Elternassistenz ermöglicht. Auf die UN-Behindertenrechtskonvention Artikel 24 können Sie sich auch beziehen.

Hausgebärdensprachkurs

Wenn Sie ein hörgeschädigtes Kind bekommen haben, ist es sinnvoll, unabhängig von einer Entscheidung über eine CI-Implantation, so bald wie möglich Gebärdensprache zu lernen. Nur so können Sie von Anfang an und auch im Falle dass eine CI-Implantation nicht den erwünschten Erfolg hat, eine vollständige Kommunikation mit Ihrem Kind sicherstellen. Unter der Rubrik Elternhilfe finden Sie jetzt:

Eine bundesweite Liste mit tauben Gebärdensprachdozenten, die auch Hausgebärdensprachkurse geben.

Neben der Beantragung der Kostenübernahme für Tommys Gebärdenweltt bei Ihrer Krankenkasse und gebärdensprachlicher Frühförderung, können Sie einen Antrag zur Kostenübernahme für einen Hausgebärdensprachkurs bei der Eingliederungshilfe Ihres Sozialamtes stellen. In dieser neuen Liste finden Sie dafür einen Gebärdensprachdozenten in Ihrer Nähe.

Hier finden Sie einen Leitfaden zu Ihrem Recht mit Musteranträgen

Regelschule

Möchten Sie Ihr Kind auf einer Regelschule bilden lassen? Die UN-Behindertenrechtskonvention gibt Ihnen diese Möglichkeit.

Inzwischen ist die Behindertenrechtskonvention in Deutschland geltendes Recht. Bund und Länder haben sich damit (nach Artikel 4 UN-BRK) verpflichtet. Dies schließt die Bildung und die freie Wahl der Beschulung ein. Siehe Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention

Schritt 1: Suchen Sie sich eine Schule in Ihrem Wohnort, die Ihr taubes oder hochgradig schwerhöriges Kind gern aufnimmt. Informieren Sie den Schulleiter darüber, dass die Dolmetscherkosten von der Eingliederungshilfe übernommen werden.

Schritt 2: Suchen Sie sich gute Gebärdensprachdolmetscher, möglichst mit Erfahrung im Dolmetschen für Kinder. Hier finden Sie eine bundesweite Liste mit Gebärdensprachdolmetschern, die aber natürlich nicht vollständig ist. Es sollte möglichst ein Team von ca. 2-4 Dolmetschern zur Verfügung stehen.

Schritt 3: Stellen Sie einen Antrag beim Sozialamt – Eingliederungshilfe. Antrag auf Kostenübernahme eines Gebärdensprachdolmetschers oder einer Gebärdensprachdolmetscherin nach § 4 SGB IX BTHG Nr. 1 und § 5 SGB IX BTHG Nr. 4 & 5 in Verbindung mit § 99 ff. SGB IX BTHG und § 112 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX BTHG (Leistungen zur Teilhabe an Bildung), zur Beschulung im Gemeinsamen Unterricht in der Regelschule.

Geforderte Unterlagen:

    1. Schwerbehindertenausweis des Kindes
    2. Die Bestätigung, dass die Schule bereit ist, das Kind aufzunehmen.
    3. Begründung, dass eine vollständige Beschulung in DGS in der Förderschuleschule nicht möglich ist – und meist eine Unterforderung darstellt. (Ich hoffe, dass Begründungen demnächst wegfallen!)
    4.  Kostenvoranschlag von Dolmetschern

 

Leitfaden für Dolmetscher und Lehrer an der Regelschule

Immer mehr Eltern wünschen sich den Regelschulbesuch ihrer gehörlosen Kinder mit Dolmetscherinnen. Da dieser Weg recht neu ist, haben Sabine Voss und Karin Kestner Leitfäden für den Regelschulunterricht für Dolmetscherinnen, Lehrerinnen und Eltern entwickelt.
Sie sollen eine Hilfe für Dolmetscherinnen sein, die zum ersten Mal im Regelunterricht dolmetschen, Lehrern eine erste Einführung in das Thema gehörloses Kind geben und Eltern eine Hilfe bei der Vorbereitung des Schulbesuchs sein.

Info für Eltern gehörloser Kinder in Regelschulen

Tipps und Leitlinien für Gebärdensprachdolmetscherinnen an Regelschulen

Leitfaden für RegelschullehrerInnen – Keine Angst vor gehörlosen Kindern

Konkreter Nachteilsausgleich für gehörlose Schülerinnen und Schüler in der Regelschule

Wir wünschen allen Eltern, Kinder, Lehrern und Dolmetscherinnen einen guten Start

12.09.2012 Sabine Voss und Karin Kestner

 
 

Links

Hier noch einige relevante Links auf einen Blick:

Leitfaden für die ersten Schritte mit einem hörgeschädigten Kind

Leitfaden mit Anträgen, Widersprüchen und Urteilen.

Urteil zur Kostenübernahme für Tommys Gebärdenwelt

Urteil zur Hörgeräteversorgung

Das Hirnstammimplantat (ABI) – Wo sind die Grenzen?

Urteil zur UN-Behindertenrechtskonvention

Einstweilige Anordnung zur Kostenübernahme durch Sozialamt

Urteil zur Beschulung mit Dolmetscher

Erfahrung zur Frühförderung über persönliches Budget

Rechtsprechung zur Finanzierung von Gebärdendolmetschern für den Besuch einer Schule, Hochschule oder Berufsschule.

Und um es auch noch einmal deutlich zu machen, Druck in welcher Richtung auch immer darf von Seiten der Sozialämter, Jugendämter oder Pädagogen niemals ausgeübt werden. Sie allein entscheiden über den Weg, den Sie mit Ihren Kindern begehen möchten. Auch dies hat übrigens ein Richter in der oben erwähnten Einstweiligen Anordnung gegen ein Sozialamt klargestellt.

Anmerkung: Frau Kestner ist 2019 verstorben