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Interview mit Frau Prof. Dr. Gisela Szagun

über Ihre Studie zum Spracherwerb von 22 hörenden und 22 cochlea-implantierten Kindern

von Karin Kestner 09.06.2002

Sehr geehrte Frau Prof. Dr. Szagun,

mit großem Interesse habe ich Ihr Buch „Wie Sprache entsteht – Spracherwerb bei Kinder mit beeinträchtigtem und normalem Hören“ gelesen. In dieser Studie haben Sie den Spracherwerb von 22 hörenden und 22 Kindern mit Cochlea Implantat verglichen und somit die erste Studie über den Nutzens der Cochlea-Implantation für den Spracherwerb von hörgeschädigten Kindern durchgeführt. Da die Ergebnisse für einen großen Teil der Kinder nicht sehr positiv waren, würde ich Ihnen gern weitere Fragen stellen:

Karin Kestner:

Mit welcher Einstellung zum CI sind Sie an die Studie herangegangen?

Frau Prof. Szagun:

mit einer neutralen. Ich wusste gar nichts über hörgeschädigte und taube Kinder. Die Kollegen Sigrid und Uwe Martin aus Bremen (Hörgeschädigtenpädagogen) haben mich auf das Thema der Kinder mit CI und Spracherwerb angesprochen. Ich fand das Thema zunächst von einer theoretischen Seite interessant: Was passiert beim Spracherwerb, wenn man nicht so gut hört? Das ist für Theorien des Spracherwerbs – besonders – im Hinblick auf sog. angeborene grammatische Fähigkeiten – äußerst relevant.

Karin Kestner:

Welche Einstellung haben Sie jetzt zum CI?

Frau Prof. Szagun:

Ich denke, dass es manchen Kindern wunderbar hilft, anderen weniger. In meiner Stichprobe von 22 jung implantierten CI Kindern haben 10 die Sprache ähnlich wie normal hörende Kinder erworben, aber 12 Kinder hatten nach 3 Jahren Spracherwerb nur Zweiwortäußerungen. Diese Kinder kommen nicht „natürlich“ in die Grammatik. Woran das liegt, weiß zur Zeit keiner. Aber klar ist, dass das CI kein Wunderwerk ist. Es ist falsch, wenn es in der Öffentlichkeit – inklusive seriöser Fernsehprogramme – so dargestellt wird.

Karin Kestner:

Zu welchem Zeitpunkt hat sich Ihre Einstellung zum CI geändert? (wenn sie sich geändert hat)

Frau Prof. Szagun:

Sie hat sich nicht wirklich geändert. Sie war zu Beginn neutral. Das ist sie immer noch. Das CI hilft manchen sehr, anderen nicht so viel.

Karin Kestner:

Was wurde den Eltern, der Kinder, die keinen ausreichenden Spracherwerb hatten, in den 3 Jahren oder nach den 3 Jahren geraten? (z.B. Gebärdensprache)

Frau Prof. Szagun:

Ich habe den Eltern nichts geraten. Das war nicht meine Aufgabe. Es ist die Aufgabe der Pädagogen und Therapeuten. Ich habe die Gastfreundschaft des Cochlear Implant Centers Hannover jahrelang in Anspruch nehmen dürfen, indem wir dort unsere wissenschaftlichen Untersuchungen ausführen durften und dürfen. Ich werde diese Gastfreundschaft und Kollegialität nicht durch Ratschläge an Eltern stören, die mir nicht zustehen. Ich habe meine Meinung und Publikationen dort kundgetan. Aber ich denke, es ist Aufgabe der Kollegen dort, Ratschläge zu geben. Ich würde es als unpassend empfinden, dazwischen zu „funken“.

Karin Kestner:

Wurden die Ergebnisse den Eltern mitgeteilt?

Frau Prof. Szagun:

Ja, alle 44 Eltern, sowohl die der Kinder mit CI wie die der normal hörenden, haben ein Exemplar des Buches bekommen.

Karin Kestner:

Wie haben die Eltern auf die Ergebnisse reagiert – insbesondere die Eltern der Kinder mit schlechtem Spracherwerb?

Frau Prof. Szagun:

Dazu weiß ich nichts.

Karin Kestner:

Welche Konsequenzen hat Ihre Studie in der MHH zur Folge- besonders auch im CIC?

Frau Prof. Szagun:

Die MHH nimmt meines Wissens nach wenig Notiz von meinen Ergebnissen. Manche deutschen Mediziner meinen nun einmal, dass sie mein Wissensgebiet auch können. Und sie arbeiten einfach weiter mit sog. Testmaterialien, die zum großen Teil keinen wissenschaftlichen Kriterien standhalten. International sieht das ganz anders aus. Dort bin ich bereits in zwei Kooperationen an Forschungsprojekten beteiligt. Möglicherweise sind Mediziner in anderen Ländern etwas bescheidener. Die Art und Weise, wie Mediziner hier den Spracherwerb auf prä-wissenschaftliche Art bearbeiten ist nicht nur bedauerlich, sondern für die Betroffenen möglicherweise schädlich, oder zumindest könnte man diesen besser helfen. Am CIC wurden unsere Ergebnisse offen und mit großem Interesse aufgenommen.

Karin Kestner:

Welche Konsequenzen würden Sie sich wünschen?

Frau Prof. Szagun:

Ich würde mir wünschen, dass die in der Rehabilitation Tätigen darüber nachdenken, was man verändern kann ,um den Kindern, die schlecht in die Sprache kommen, noch besser zu helfen. Man darf nicht vergessen, dass diesen Kindern ja geholfen wird, denn sie können hören und haben daher eine Menge von Information zugänglich. Bei der Sprache klappt es nicht so. Aber Sprache ist wichtig. Vielleicht kann man das Training verändern (ich weiß es nicht.) Insbesondere sollte man überlegen, ob man Gebärdensprache lehrt. In manchen anderen Ländern (USA, England, Israel) tut man das. Wenn Kinder zu lange nur ein notdürftiges Symbolsystem zur Verfügung haben, so kann das negative Wirkungen auf ihre Intelligenzentwicklung haben. Daher sollte man, wenn das Symbolsystem der Sprache in der auditiven Modalität nicht so gut funktioniert, auf ein Symbolsystem in einer anderen Modalität (visuell-Bewegung) zurückgreifen. Ich weiß, dass das schwierig ist. Natürlich ist es wünschenswert, dass die Kinder die gesprochene Sprache erwerben. Denn das macht das Leben leichter. Die Eltern müssten ja die Gebärdensprache erst lernen, und bis sie gut darin werden, dauert das. Oma und Opa und Nachbarskinder werden die Gebärdensprache wohl eher nicht lernen, so dass das Alltagsleben für die Kinder eingeschränkter wird. Aber man muss überlegen, was man für die Kinder tut, die nicht gut in die Sprache kommen, denn wenn ihre intellektuelle Entwicklung auch Schaden nimmt , schränkt das ihr weiteres Leben, Berufschancen usw. evt. noch mehr ein. Das muss man abwägen. Aber ich denke, das ist Aufgabe der pädagogischen Betreuer.

Karin Kestner: Sie empfehlen „Total Communication“ in Deutschland zu versuchen, was verstehen Sie unter dem Begriff?

Frau Prof. Szagun:

Ich verstehe nicht viel davon. So wie ich es verstanden habe, erlaubt man dort, jede Form der Kommunikation, die funktioniert: unterstützende Gebärden, Lautsprache, und Gebärdensprache.

Karin Kestner:

Kennen Sie gehörlose Erwachsene?

Frau Prof. Szagun:

Nein.

Karin Kestner:

Welche Empfehlung würden Sie Eltern von gl Kindern vor der CI-OP geben? (bezgl. Kommunikationsform)

Frau Prof. Szagun:

Ich würde keine Empfehlung geben. Dazu bin ich nicht qualifiziert, sondern die Pädagogen und Sprachtherapeuten.

Karin Kestner:

Darf ich auch nach Gefühlen fragen?

Frau Prof. Szagun:

Ja.

Karin Kestner:

Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie merkten, das die Kinder große Probleme mit dem Spracherwerb hatten?

Frau Prof. Szagun:

Ich habe immer gewartet und große Hoffnung gehabt, dass beim nächsten Aufnahmezeitpunkt mehr da ist. Die Eltern insbesondere haben mir leid getan, weil sie ihre Kinder mit den Kindern mit guter Sprachentwicklung vergleichen. Oft denken die Eltern, dass es ihre Schuld ist. In meinem Buch habe ich versucht, den Eltern zu vermitteln, dass man nicht weiß, warum das so unterschiedlich ist, und dass sie nicht automatisch denken sollten, es sei ihre Schuld.

Karin Kestner:

Hätten Sie gern eingegriffen oder taten Ihnen die Kinder leid?

Frau Prof. Szagun:

Ja, die Kinder taten mir manchmal leid. Wenn ich gemerkt habe, dass ein Kind etwas mitteilen wollte, aber es nicht konnte, hat mir das leid getan. Das Eingreifen hat Grenzen. Erstens, was sollte ich denn tun? Zweitens habe ich eine professionelle Einstellung: nicht mir steht das Eingreifen zu, und besonders dann nicht, wenn ich Gast einer pädagogischen Institution bin. Auch bin ich gar nicht kompetent dafür. Ich kann nur eine Meinung äußern, die sich aus meinen Forschungsergebnissen herleitet. Aber ich habe nicht die pädagogische Kompetenz, diese in praktisches Handeln umzusetzen. Hier ist Kooperation mit Pädagogen erforderlich.

Karin Kestner:

Vielen Dank für das offene Beantworten meiner Fragen, sehr geehrte Frau Prof. Szagun. Sie empfehlen die Kooperation mit Pädagogen, die empfehle ich auch, besonders die Kooperation mit Pädagogen, die selbst gehörlos sind. Damit den gehörlosen Kindern ein Leben ohne Schaden in der intellektuellen, sozialen und emotionalen Entwicklung zu Teil wird, sollte auf diesem Gebiet endlich die Meinung gehörloser Erwachsener gehört werden.

das Interview wurde geführt von Karin Kestner

Ein weiteres Interview mit Frau Prof. Szagun finden Sie hier.