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Förderung des Spracherwerbs durch GuK

Prof. Dr. Etta Wilken  11.1999

 

Förderung des Spracherwerbs durch die Gebärden unterstützte Kommunikation (GuK) bei Kindern mit Down-Syndrom

 

Die Bedeutung der Eltern-Kind-Interaktion

Um die Entwicklung von Kindern mit Down-Syndrom günstig unterstützen zu können, müssen wir uns verdeutlichen, welche Faktoren für die Entwicklung von Kindern besondere Relevanz haben und in welcher Weise das Down-Syndrom zu spezifischen Veränderungen dieser Grundlagen führt.

Wie bei allen Kindern wird die Entwicklung von Kindern mit Down-Syndrom bestimmt durch das individuelle Potential und die Bedingungen im sozialen Umfeld, aber auch von vielfältigen syndromspezifischen Veränderungen und besonderen gesundheitlichen Problemen.

Die unterschiedliche Ausprägung dieser möglichen Beeinträchtigungen und die individuell verschiedenen Voraussetzungen und Bedingungen führen zu einer großen Variabilität bei Kindern mit Down-Syndrom, die die übliche Streuung in der Entwicklung nicht behinderter Kinder noch deutlich übertrifft.

Die kindliche Entwicklung wird von vielfältigen Faktoren geprägt, die in einem interdependenten Zusammenhang und in wechselseitiger Abhängigkeit zu sehen sind. Vor allem einer gelingenden Eltern-Kind-Interaktion kommt dabei für die Entwicklung eine besondere Bedeutung zu. Aus behinderungsbezogenen oder syndromspezifischen Gründen kann jedoch bei Kindern mit Down-Syndrom gerade diese förderliche Interaktion gefährdet sein. Die Kinder zeigen aufgrund der typischen Hypotonie und der leichteren Ermüdbarkeit ein geringeres Antwortverhalten. Die Eltern müssen sich oft noch mit der Behinderung ihres Kindes emotional auseinandersetzen und sind zudem durch das Down-Syndrom verunsichert in der Interpretation der kindlichen Bedürfnisse. Deshalb gewinnen Förderansätze Bedeutung, die eine Unterstützung der häufig erschwerten Interaktionen zwischen Eltern und ihrem Kind ermöglichen und kooperativen und kommunikativen Verhaltens erleichtern.

Damit wird Abstand genommen von einer vorwiegend defektorientierten Behandlung des Kindes zugunsten von familienbezogenen Hilfen und einer Betonung der kindlichen Eigenaktivität, Selbstgestaltung und Kompetenz. Diese Anknüpfung an die vorhandenen Möglichkeiten des Kindes bedeutet, „seine in ihm schlummernden Fähigkeiten bestmöglichst zur Geltung zu bringen, sein Handlungsrepertoire, sein Verständnis und seine sozialen Fähigkeiten zu erweitern und sein Selbstbewußtsein zu stärken“ (Schlack,1989,17). Ein solches Verständnis von Förderung hat entsprechend nicht nur zum Ziel, die Folgen der Behinderung zu vermindern, sondern will vielmehr die gesamten Auswirkungen auf Lebensqualität und Wohlbefindens des Kindes und seiner Familie berücksichtigen.

Lebensqualität beginnt mit der Gestaltung gemeinsamer Handlungs- und Spielmöglichkeiten im Lebensraum des Kindes, seiner Familie und Umwelt. Wenn das Kind sich selbst als handelnde Person erleben kann, die in ihrer Umwelt etwas bewirkt, das Befriedigung schafft und Anerkennung findet, kann eine günstige Entwicklung eher gelingen. Das gilt besonders für die Förderung der sprachlichen Fähigkeiten.

Syndromspezifische Aspekte der Sprachentwicklung

Kinder mit Down-Syndrom entwickeln sich langsamer als nicht behinderte Kinder und durchschnittlich kann man von einer etwa verdoppelten Entwicklungszeit ausgehen. Dabei ist aufgrund der verschiedenen spezifischen Beeinträchtigungen jedoch die Sprachentwicklung besonders betroffen und oft wird mit zunehmenden Alter die Diskrepanz zwischen den kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten deutlicher. So entsprechen die präverbale Fähigkeiten unter Berücksichtigung der syndromspezifischen Verzögerung noch der allgemeinen Entwicklung, aber etwa im 2. Lebensjahr, mit Beginn des eigentlichen Sprechens, werden die spezifischen Schwierigkeiten der Kinder mit Down-Syndrom ausgeprägter und bewirken eine zunehmend größere Diskrepanz. Die Ursachen liegen sowohl im motorisch-funktionellen Bereich wie auch im kognitiv-emotionalen Bereich.

So erschweren die oft vielfältigen Veränderungen beim Down-Syndrom, die Zunge, Lippen, Gaumen und Zähne betreffen und die motorische Schwäche, die sich bereits in den Primärfunktionen der Sprechorgane zeigt, d.h. beim Saugen, Kauen und Trinken, in spezifischer Weise das Erlernen der motorischen Grundlagen des Sprechens.

Oft spielen aber nicht nur funktionelle Beeinträchtigungen des Kindes eine Rolle, sondern auch unsichere Umgangsweisen der Bezugpersonen und ungünstige Rahmenbedingungen. Deshalb sind die Hilfen nicht nur als spezielle Maßnahmen zu sehen, sondern als Anregungen,wie das Kind am besten unterstützen können, um die jeweiligen Anforderung zu verstehen und sich entsprechend anzupassen. Erst durch solche Integration von Hilfen in die normalen Alltagsroutinen erlebt das Kind deren Bedeutung und kann sein Verhalten zunehmend darauf einstellen.

Auch wenn es wichtig ist, die orofazialen Grundlagen zu beachten und spezielle Unterstützung zu geben, beziehen sich die meisten angebotenen sprachlichen Hilfen für Kinder mit Down-Syndrom nicht auf spezielle Übungen sondern auf eine ganzheitliche Förderung der kommunikativen Fähigkeiten.

Bei vielen Kindern führen die Verzögerungen und Abweichungen in der präverbalen Entwicklung und beim Spracherwerb zu erheblich beeinträchtigter Kommunikation und vor allem zu längeren Zeiten fehlender Mitteilungsfähigkeit. Zudem ist die Retardierung in den verschiedenen Entwicklungsbereichen unterschiedlich ausgeprägt und besonders die sprachlichen Fähigkeiten weichen oft deutlich von den motorischen und kognitiven Fähigkeiten ab. Deshalb müssen diese unterschiedlichen Beeinträchtigungen der Entwicklung und der kommunikativen und sprachlichen Fähigkeiten bei der Gestaltung der individuellen und familienbezogenen Förderung berücksichtigt werden. Besonders die Probleme im gemeinsamen Handeln von Kind und Interaktionspartner und die Auswirkungen eingeschränkter Verstehbarkeit und Mitteilungsfähigkeit sind dabei zu bedenken.

Zu berücksichtigen sind auch neben den häufigen Beeinträchtigungen im Sehen, Hören und in der Motorik die bei vielen Kindern mit Down-Syndrom bestehenden Wahrnehmungsschwächen im visuellen, auditiven, taktilen und kinästhetischen Bereich. Dabei ist die bedeutungsbezogene Verarbeitung von Informationen, die mit den Sinnen aufgenommen wurden, erschwert und basales Lernen in spezifischer Weise beeinträchtigt. Die Wahrnehmung wird durch das Interesse gelenkt, indem unwichtige Reize ausgeblendet werden. Bei Störung dieser aktiven Aufmerksamkeit erfolgt eine Reaktion auf den jeweils dominanten Reiz und bedingt dadurch eine nur ungenügende interessengeleitete Wahrnehmung und Interpretation. Nachgewiesen ist zudem ein vermindertes Kurzzeitgedächtnis insbesondere für auditive Eindrücke.

Aus einem allgemeinen Erfahrungsdefizit aufgrund eingeschränkter motorischer Handlungsfähigkeit und einem Mangel an Vorstellungsfähigkeit können sich auch im kognitiven Bereich für die Entwicklung von Sprache Einschränkungen ergeben.

Allerdings ist fast immer deutlich, daß das Sprachverständnis bei Kindern mit Down-Syndrom erheblich besser ist als ihr Sprechvermögen vermuten läßt. Dieser Unterschied ist größer als die bei allen Menschen gegebene Differenz zwischen aktiver und passiver Sprachkompetenz.

Für Kinder mit Down-Syndrom ergeben sich daraus frustrierende Situationen. Sie sind in der Lage, Sprache zu verstehen, sie haben das Bedürfnis, etwas mitzuteilen, aber sie werden nicht verstanden. Häufige Mißverständnisse prägen deshalb ihre Kommunikationserfahrungen. Es sind deshalb besondere und individuell angepaßte Hilfen erforderlich, um solche Schwierigkeiten bei erheblich eingeschränkter oder nicht vorhandener Lautsprache zu überwinden.

Deshalb sind für Kinder, die sich noch im Spracherwerb befinden, ergänzende Kommunikationsformen zu gestalten, um die lange Zeit eingeschränkter oder fehlender Mitteilungsfähigkeit zu überbrücken und um die sonst oft frustrierenden Erfahrungen mit mangelhaften Verständigungsmöglichkeiten zu vermeiden.

Für ältere Kinder, deren Sprechvermögen nicht ihrem Mitteilungsbedürfnis entspricht, sind gleichfalls non-verbale ergänzende Kommunikationshilfen anzubieten, das gilt auch, wenn die Verständlichkeit der gesprochenen Sprache nur gering ist. Häufig wird sonst aufgrund der schlechten Aussprache zudem das tatsächliche Sprachverständnis oft falsch bewertet und werden die kognitiven Kompetenzen insgesamt unterschätzt.

Aufgrund dieser speziellen Gegebenheiten gewinnen nicht-verbale ergänzende Kommunikationsformen zunehmend Bedeutung zur Unterstützung der Verständigung, aber auch zur Förderung des Spracherwerbs. Insbesondere Gebärden zur Unterstützung der Kommunikation können die spezifischen Schwierigkeiten von Kindern mit Down-Syndrom vermindern.

Kooperatives Handeln als Grundlage von Kommunikation

Die Entwicklung kindlicher Kommunikation erfolgt in sinn- und bedeutungsvollen Alltagssituationen, im dialogische Handeln beim Aufnehmen und Tragen des Kindes, beim Pflegen und Nähren und wird deutlich in Zärtlichkeit und Behutsamkeit und im Spiel miteinander.

Die motorisch-funktionellen Grundlagen für das Sprechen sind deshalb auch in diesen Alltagsroutinen zu üben, weil da für das Kind ein unmittelbarer Sinnbezug erlebbar wird. Die wesentlichen kognitiven und emotionalen Grundlagen der sprachlichen Entwicklung werden jedoch in gemeinsamen Handlungen erworben.

Grundlagen der Sprachentwicklung

motorisch-funktioneller Bereich: kognitiver + sozio-emotionaler Bereich:

  • Primärfunktionen der Sprechorgane: Saugen, Kauen, Schlucken,
  • Zungen- und Lippenbeweglichkeit
  • Atmung (Mund- und Nasenatmung) Pusten,Schneuzen
  • Ausdrucks- und Funktionslaute
  • Motorik (Kopfkontrolle)
  • Hören, Sehen

kognitiver + sozio-emotionaler Bereich:

  • Wahrnehmungsfähigkeit
  • Blickkontakt, Lächeln
  • Aufmerksamkeit, Interesse
  • Interaktives Handeln (turntaking)
  • Situationsverständnis
  • Vorstellung, Erwartung
  • Nachahmung (unmittelbar,aufgeschoben)
  • Symbolverständnis
  • Sprachverständnis

 

In sozialer und gegenständlicher Kooperation sind Erfahrungen möglich, die Sinn und Ziel von Eigenaktivität in emotionalen Beziehungen verdeutlichen und damit Erinnern ermöglichen. So können nicht-intentionale Verhaltensweisen des Kindes durch gleiche verläßliche Beantwortung der Bezugspersonen intentionalisiert werden. Auf diese Weise lernt das Kind, daß es etwas bewirken und sich mitteilen kann.

Die Fähigkeit des Kindes zur Repräsentation – sich etwas vorzustellen – ist eine wichtige Voraussetzung, um ein situationsbezogenes oder verbales Zeichen vorausschauend zu interpretieren. Dann ist es z.B. in der Lage, das Umbinden des Lätzchens als Ankündigung für das Essen zu verstehen oder einen tröstenden Zuspruch als beruhigende Nähe der Bezugperson zu empfinden. Eine vorwiegende lautsprachliche Orientierung kann dagegen zu einseitiger Betonung der Bedeutung von Lallen und Lautproduktionen führen, weil vorwiegend auf den engen Bezug von ersten Lauten zu ersten Wörtern gesehen wird. Wenn wir jedoch im kooperativen Handeln förderliche Bedingung für die Kommunikationsentwicklung sehen, eröffnen sich vielfältige neue Ansätze in handlungsorientierten und sensomotorischen Bereichen zur Unterstützung und Hilfe bei behinderungsspezifischen Schwierigkeiten des Spracherwerbs.

Beim An- und Ausziehen, beim Essen, in Pflege- und Spielhandlungen sind günstige Bedingungen für dialogisches Handeln zu gestalten, die dem Kind erleichtern, eigene Aktivität und Verhalten zu zeigen, das beantwortet und interpretiert werden kann. So können wir beim Ankleiden des Kindes ihm z.B. den Ärmel der Jacke hinhalten und dann abwarten, damit das Kind selbst die Hand hindurchsteckt. Beim gemeinsamen Spiel warten wir mit der nächsten Handlung, bis das Kind Blickkontakt aufnimmt und mit eigener Handlung zeigt, daß es den Fortgang wünscht.

Oft wird dagegen versucht, die geringere Aktivität der Kinder mit speziellen therapeutischen Maßnahmen auszugleichen. Förderung wird dann erwartet von einem vielfältigen Angebot isolierter Reize, wie z.B. Bürsten und Reiben, kalte und warme Stimulation, laute Geräusche und auffällige visuelle Eindrücke. In solchen konstruierten Übungen wird dem Kind jedoch die nötige kontextbezogene Bedeutung oft vorenthalten und damit die für das Lernen erforderliche Möglichkeit, Erfahrung zu machen, Wiederholung zu wünschen und sich die nächste Handlung vorzustellen. Durch eine vermehrte Aktivität der Bezugspersonen kann dagegen die eingeschränkte Eigenaktivität bei Kindern mit Behinderungen nicht hinreichend kompensiert werden, vielmehr können überstimulierende Angebote das eigene explorienden Verhalten des Kindes und die Möglichkeit zur bedeutungsbezogenen Verarbeitung einer Information erschweren.

Förderliche Interaktionen entstehen demnach nicht durch einseitige Einflußnahme des Erwachsenen auf das Kind, sondern es sind Bedingungen erforderlich, die einen wechseitigen Bezug im Handeln ermöglichen. Allerdings ist es möglich, durch eine günstige Gestaltung der Lernbedingungen die Schwierigkeiten zu verringern, die das Kind hat, auf Angebote mit entsprechendem Verhalten zu antworten und und um ihm ein Mithandeln zu erleichtern.

Indem wir die kindlichen Bedürfnisse verstehen, kann das Kind lernen, sich zu verständigen. Dazu müssen für die einzelnen Entwicklungsphasen Kriterien erarbeitet werden, wie strukturierte Förderung zu gestalten ist und wie sich durch die Einbettung in Alltags- und Spielhandlungen für das Kind Sinn und Bedeutung erschließt.

Oft ist es schwierig, Kinder, die bisher noch keinen Zugang zu erfolgreichen Mitteilungsformen gefunden haben, in bezug auf ihre tatsächlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten einzuschätzen. Es ist deshalb sinnvoll, mit einer entwicklungsorientierten Analyse die individuellen Bedingungen im motorisch-funktionellen und im kognitiv-strukturellen Bereich für die Förderung und Erweiterung der Kommunikation und des Sprechens aufzuzeigen

Jede Förderung der Kommunikation sollte zielgeleitet und planvoll erfolgen und erfordert eine begleitende Überprüfung der angestrebten Ergebnisse. Dazu gehört auch die Einbeziehung zeitlicher Vorgaben. Eine z. B. jahrelange lautsprachliche Förderung ohne nennenswerte Ergebnisse muß sich gerade auch in Hinblick auf die tatsächlichen Bedürfnisse des Kindes infrage stellen lassen.

Andererseits darf eine Hilfe zur Unterstützung der Kommunikationsfähigkeit ihren Wert nicht ausschließlich ableiten von stetiger Weiterförderung. Es ist ein oft bestehendes Mißverständnis, daß nur die richtigen Maßnahmen gefunden werden müssten, um eine kontinuierliche weitere Entwicklung zu ermöglichen. Die jeweils geeignete Kommunikationsform kann für das einzelne Kind mit Behinderung sowohl eine mehr oder minder lange Durchgangsphase darstellen als auch seine dauerhafte Form der Realisierung von Kommunikation. Die Verbesserung der Möglichkeiten verstanden zu werden oder sich mitteilen zu können, hat auf jeder Entwicklungsstufe wesentliche Bedeutung und bedarf keiner darüber hinausgehenden Legitimation.

Kooperatives Handeln als wichtige Grundlage der Kommunikationsentwicklung ermöglicht ganzheitliche handlungsorientierte Hilfen bei spezifischen Schwierigkeiten im Spracherwerb und die Überwindung vorwiegend sprechorientierter Maßnahmen erschließt differenziertere Möglichkeiten für den Einsatz ergänzender Kommunikationsformen.

Gebärden unterstützte Kommunikation (GuK)

Die Gebärdensprachen sind ein eigenständiges Sprachsystem der Gehörlosen, das differenzierte Mitteilungen ermöglicht. Abgesehen von einigen natürlichen und formbeschreibenden Gebärden (z.B essen, trinken ) sind deshalb Gebärden kulturabhängig und keineswegs international gleich. Indem in Gebärden verschiedene Informationen motorisch verknüpft und zeitgleich vermittelt werden können, sind besondere Regeln erforderlich. Deshalb entspricht Aufbau und Satzstruktur der Gebärdensprache keineswegs der umgebenden Lautsprache.

Lautsprachbegleitenden Gebärden sind zwar aus der deutschen Gebärdensprache abgeleitet, entsprechen in der Abfolge jedoch der Lautsprache, weil sie begleitend zur gesprochenen Sprache gebärdet werden. Damit soll insbesondere hörgeschädigten Kindern die Lautsprache sichtbar gemacht werden, um so die Verständigung zu erleichtern.

In Abgrenzung zu diesen beiden Systemen setze ich in der Frühförderung hörender Kinder mit spezifischen Problemen beim Spracherwerb und beim Sprechen die Gebärden unterstützte Kommunikation (GuK) als eine wichtige ergänzende Hilfe ein. Ich bezeichne damit ein System, das gerade jüngeren Kindern den Zugang zur gesprochenen Sprache erleichtern soll. Dabei werden nicht alle gesprochenen Wörter und vor allem nicht alle grammatischen Strukturen (Fälle und Mehrzahlbildungen) gebärdet, sondern nur die bedeutungstragenden Wörter. Die inhaltliche Erschließung von Mitteilungen wird dadurch erleichtert und die Visualisierung durch die Gebärden ermöglicht dem Kind ein besseres Verstehen.

Gebärden sind früher und leichter zu lernen als Lautsprache und durch eine Auswahl der gebärdeten Wörter nach entwicklungsentsprechender und subjektbezogener Bedeutung kann eine zusätzliche Hilfe geboten werden. Viele Gebärden enthalten deutliche Merkmale des Bezeichneten, z.B. bezogen auf die Form, die Tätigkeit oder auf eine wesentliche Eigenschaft. Gebärdensprache ist deshalb oft bildhaft und diese größere Nähe von Zeichen und Bezeichnetem erleichtert das Verständnis. Das entspricht den Lautmalereien wie z.B. „Wau-wau“ für Hund oder „Tick-tack“ für Uhr. Auch ist, im Gegensatz zu Wörtern, ein längeres Betrachten des Zeichens möglich oder eine langsamere Ausführung der Gebärde. Zudem ermöglicht die Verbindung von Wort und Gebärde den Kindern, sich besser an die Wörter zu erinnern. Spezielle Schwierigkeiten beim Hören und in der auditiven Wahrnehmung können durch die Verknüpfung von auditiver und visueller Information verringert werden.

Beim Erlernen der Gebärden können wir die Kinder direkt unterstützen. Eine Vereinfachung in der Bewegungsausführung der Gebärden ist aber unnötig, weil das Kind bei der Nachahmung die Gebärde aktiv seinen Bewegungsmöglichkeiten anzupassen vermag. Auch könnte die Übernahme solcher Vereinfachungen, die das Kind aus motorischen Gründen vornimmt, die Unterscheidung zwischen verschiedenen Wörtern erschweren.

Wie beim Sprechen, wenn das Kind z. B. „lade“ statt „Schokolade“ sagt, werden auch diese motorischen Vereinfachungen mit zunehmenden Fähigkeiten überwunden. Typisch ist z. B. wie alle Kinder anfangs allein mit einem Öffnen und Schließen der Hand winken bis sie die übliche koordinierte Bewegung von Hand und Arm gelernt haben.

Anfangs gebärdet das Kind auch nur einzelne wichtige Wörter, so wie jedes Kind anfangs nur Ein-Wort-Sätze bildet. In der Kombination von Gebärden zu Zwei-„Wort“-Sätzen wird ebenfalls deutlich, wie sich Eigenaktivität und Kreativität des Kindes auch in der Gebärden unterstützten Kommunikation vergleichbar mit der normalen Sprachentwicklung entfalten können. Ein dreijähriger Junge gebärdete z.B.“laufen“ und „fertig“ und bezeichnete damit einen Bordstein. Er wußte nicht nur, daß er stehenbleiben muß, sondern er fand eigenständig einen gebärdeten Begriff. Interessant ist auch, daß durch die Kombination von gesprochenen ersten Wörtern und Gebärden die Zweiwort-Sätze in der gesprochenen Sprache vorbereitet werden können, z.B.“Mama“(gespr.) „kocht“(gebärd.).

Bei ähnlich klingenden Wörtern wird durch die Gebärde ein Verwechseln vermieden und das Verstehen erleichtert. So sagte z.B. ein Kind für Brei, heiß und Baby jeweils „ei“, gebärdete aber die Wörter bedeutungsentsprechend verschieden. Oft wurde erst durch den Einsatz von Gebärden deutlich, daß Kinder Mitteilungen deshalb nicht erfassen konnten, weil sie die Wörter auditiv nicht zu unterscheiden vermochten (z.B. Hose und Dose). Zudem können, wenn das Kind selbst gebärdet, seine noch undifferenzierten Laute richtig interpretiert und verstärkt werden.

Es sind also vielfältige Gründe für die positiven Auswirkungen der Gebärden unterstützten Kommunikation auf den Spracherwerb festzustellen:

Gründe für die positiven Auswirkungen von Gebärden auf die lautsprachliche Entwicklung

1. Gebärden sind früher und leichter zu lernen als Lautsprache.Die Auswahl der gebärdeten Wörter erfolgt unter entwicklungsentsprechender und subjektbezogener Bedeutung.

2. Die Aufmerksamkeit und das genaue Hinsehen des Kindes wird unterstützt.

3. Die visuelle Verdeutlichung der Schlüsselwörter erleichtert das Verstehen der wichtigen Informationen. Die simultane visuomotische Darbietung ist besser zu erfassen als die auditiv sequentielle Kodierung.

4. Viele Gebärden enthalten deutliche Merkmale des Bezeichneten, z.B. bezogen auf die Form, die Tätigkeit oder auf eine wesentliche Eigenschaft. Gebärdensprache ist deshalb oft bildhaft, und diese Nähe von Zeichen und Bezeichnetem erleichtert das Verständnis.

5. Gebärden sind nicht so schnell wie gesprochene Sprache. Zudem ermöglicht eine langsamere Ausführung der Gebärde ein längeres Betrachten. Das Wort dagegen ist kann nicht ohne Bedeutungsverlust verlangsamt gesprochen werden.

6. Die Verbindung von Wort und Gebärde unterstützt die Fähigkeit, sich an die Wörter zu erinnern, und bei ähnlich klingenden Wörtern wird ein Verwechseln vermieden.

Nachdrücklich muß aber betont werden daß die Gebärden die Lautsprache unterstützen sollen und nicht ersetzen! Die Kinder müssen deshalb immer ermutigt werden, ihren Möglichkeiten entsprechend sich auch verbal zu äußern. Und natürlich sind nicht für alle Kinder mit Down-Syndrom nun Gebärden zur Unterstützung im Spracherwerb nötig. Auch hier ist entscheidend, eine an den individuellen und familiären Bedingungen orientierte Therapie zu gestalten.

Wichtig für den Spracherwerb bei Kindern mit Down-Syndrom sind deshalb sowohl sprechorientierte Übungen bestimmter motorischer Grundlagen und Funktionen, als auch Hilfen zur Entwicklung der kognitiven und sozio- emotionalen Voraussetzungen, damit zunehmend differenziertere Möglichkeiten gefunden werden, sich vorzustellen, hinzuweisen und mitzuteilen (vgl. Wilken, 1993 ).

Verstehen und Mitteilen sind in der Entwicklung aufeinander bezogen und differenzieren sich zunehmend, wobei das Verstehen auf der jeweiligen Stufe dem Mitteilen deutlich vorausgeht. Über ein anfangs nur kontextbezogenes Verstehen kann das Kind zunehmend Vorstellungen erwerben, die es dann mit einem entsprechenden Verhalten uns verständlich machen kann. Es ist zunehmend in der Lage, auch bestimmte Dinge als Anzeichen für bevorstehende Handlungen zu erkennen, um dann durch Zeigen entsprechende Wünsche deutlich zu machen. Es beginnt, kontextbezogen Verhalten nachzumachen (z. B. Winken ) und kann dann dies Verhalten auch als Mitteilung einsetzen ( Winken, wenn es weggehen will ). Mimische und gestische Verständigung ist zeitlich früher möglich als verbale Mitteilungen.

Deshalb kommt der Unterstützung dieser Verständigungsformen für die Förderung des Spracherwerbs eine besondere Bedeutung zu. Mimik und Gestik sind natürliche sprachbegleitende Kommunikationsmittel, die z.B. Stimmungen deutlich machen (Freude, Ärger, Zorn) oder die hinweisende (Zeigegeste) oder drohende Bedeutung haben (geballte Faust). Gestik ergänzt individuell unterschiedlich unsere verbalen Mitteilungen und ist nicht als behinderungsspezifisch zu sehen.Gebärden erweitern diese natürlichen Ausdrucksformen, um so früher differenzierte Mitteilungen zu ermöglichen.

Bedeutung von Gestik und Gebärden in der Sprachentwicklung

Innerhalb der normalen Sprachentwicklung geht der Gebrauch von Gesten dem der gesprochenen Sprache voraus und spielt bei allen Kindern eine wichtige Rolle für basale Kommunikation. Kleinkinder zeigen auf Dinge, die sie möchten, heben die Arme, um hochgenommen zu werden, machen bitte-bitte, um etwas zu erhalten. Die üblichen Kniereiter- und Körperspiele, die dem Kind etwa im Alter von 8 bis 9 Monaten angeboten werden, beziehen sich direkt auf diese zunehmenden Möglichkeiten, mit Gestik zu antworten. Auch die typischen Aufforderungen zu zeigen, wie gut das Essen geschmeckt hat, wie groß das Kind ist, Winke-Winke zu machen und ähnliches, fördern die Fähigkeit, sich mit Gesten mitzuteilen.

Die Benutzung von Gesten ist demnach eine normale entwicklungstypische Kommunikationsform. Auch die Gebärden zur Unterstützung der Kommunikation sind somit nicht problematisch, sondern ermöglichen, ein natürliches Verständigungsmittel bewußter einzusetzen und um konventionelle Zeichen zu erweitern.

Oft wurde jedoch angenommen, daß durch Gebärden die lautsprachliche Entwicklung beeinträchtigt werden könnte. Zunehmend wird jedoch deutlich, daß im Gegenteil Gebärden sogar die lautsprachliche Entwicklung zu fördern vermögen. Verschiedene empirische Untersuchungen, die von Ihssen (1985, 50f) beschrieben werden, belegen, daß Gebärden sowohl das Verstehen von Wörtern als auch das Erlernen lautsprachlicher Äußerungen erleichtern. Weil die Kinder unmittelbar erleben, daß gebärdete Mitteilungen etwas bewirken, wird ihnen „der Sinn und die Bedeutung gesprochener Sprache oft erst bewußt“ (Adam, 1993, 290). Gebärden können deshalb sprachanbahnende Funktion haben. „Die häufig geäußerte Befürchtung, daß der Gebrauch von Gebärden das Sprechenlernen verhindere, kann zumindest im Anwendungsbereich für Menschen mit geistiger Behinderung nicht belegt werden“ ( Verband ev. Einrichtungen, 1995, 276 ). Aus England liegen einige Untersuchungen vor, die zeigen, daß Gebärden nicht nur die Kommunikationsfähigkeit verbessern, sondern auch das Sprechenlernen definitiv beschleunigen können (LePrevost 1993, 29). Eine größere Studie von Makaton bei über tausend behinderten Personen zeigte, daß 39 % durch Gebärden vermehrt lautierten und 25 % vermehrt expressive Sprache benutzten (Siegel 1995, 1). Mit wachsender Akzeptanz Gebärden in der Kommunikationsförderung werden diese Erfahrungen mittlerweile vielerorts bestätigt. „Wir konnten mehrmals die Beobachtung machen, daß die behinderten Menschen vermehrt zu reden beginnen, weil sie durch die Kombination von Wort und Gebärde von den Mitmenschen verstanden werden“ (Portmann 1993, 7).

Buckley (1993, 23) berichtet, daß einige Kinder mit Down-Syndrom, die sie beobachtete, über ein Jahr lang intensiv gebärdeten, bevor sie in der Lage waren, ein einziges Wort zu sprechen. Das ist für ein Kind eine frustrierend lange Zeit ohne eigene Mitteilungsmöglichkeit, aber auch für seine Bezugspersonen! Die positive Erfahrung mit Gebärden zur Verständigung fördert dagegen das Bemühen des Kindes, sich weiter lautsprachlich zu äußern. Mit langsam zunehmender Fähigkeit im Sprechen werden für Wörter, die bereits gesprochen werden können, die Gebärden weggelassen. So wurde bei Kindern mit Down-Syndrom beobachtet, daß sie sich nach einer mehr oder weniger langen Phase vorwiegend gebärdensprachlicher Verständigung (1 bis 3 Jahre) zunehmend lautsprachlich äußerten und dann das Benutzen von Gebärden nicht mehr benötigten (Buckley ebd.).

Diese günstigen Auswirkungen erklären sich mit den ähnlichen kognitiven Voraussetzungen, die beiden Symbolsystemen – Sprache und Gebärde – zugrunde liegen. Als weitere Gründe für den positiven Effekt von Gebärden auf die lautsprachliche Entwicklung wird angenommen, daß durch die Anlitzgerichtetheit und die verlangsamte Sprache die Aufmerksamkeit des Kindes erleichtert wird. Durch die visuelle Betonung der bedeutungsrelevanten Schlüsselwörter ist zudem ein besseres inhaltliches Erfassen möglich, während sonst in einem längeren Satz die entscheidenden Informationen untergehen können.

Martin ist 3 Jahre alt. Er kann einige Wörter sprechen (Mama, Papa, Ati) und etwa 30 Wörter gebärden. An einem Mittag kommt der Vater nicht wie gewohnt nach Hause. Martin schaut die Mutter an und fragt dann: „Papa (gesprochen) arbeiten (gebärdet)?“. Die Mutter freut sich über die richtige Überlegung und verstärkt sofort: „Ja, Papa muß arbeiten!“

Dieses Beispiel verdeutlicht noch einen speziellen Effekt. Ohne die Gebärde hätte der Junge gefragt “ Papa?“ und die Mutter hätte ihm entsprechend Auskunft gegeben. Jetzt zeigt der Junge dagegen, daß er selbst die richtige Überlegung hatte, und die Mutter bestätigt ihn erfreut! So werden seine tatsächlichen kognitiven Möglichkeiten besser erkannt und können aufgenommen und erweitert werden.

Bei schwerer beeinträchtigten Kindern mit erheblich eingeschränkter und schwer verständlicher Lautsprache können Gebärden auch ohne deutliche Verbesserung des Sprechens eine wichtige Ergänzung für die Erweiterung ihrer Kommunikationsmöglichkeiten sein ( vgl. Adam, 1993,184 ).

Es kann deshalb festgestellt werden, daß Gebärden zur Unterstützung der Kommunikation sich förderlich auf die Mitteilungsfähigkeit und auf die Sprachentwicklung auswirken.

Möglichkeiten der Förderung mit der Gebärden unterstützten Kommunikation

Meistens beginnen Kinder Gesten etwa im Alter von 8 bis 9 Monaten zu benutzen. Deshalb kann bei Kindern mit Down-Syndrom, die ein entsprechendes Entwicklungsalter haben – unter Berücksichtigung der syndromspezifischen Verzögerung also etwa mit 1- 1 ½ Jahren – mit der Einführung erster Gebärden zur Unterstützung verbaler Mitteilungen begonnen werden.

In einer vorbereitenden Phase ist es sinnvoll, dem Kind in gemeinsamen Handlungen Möglichkeiten zum kontextbezogenen Mitmachen und Nachmachen anzubieten. Abwechselndes Handeln (turn-taking), beliebte Rituale und spielerisches Tun-als-ob, Kniereiter- und Fingerspiele fördern Vorstellung und Erinnern des Kindes und ermöglichen Wiederholung und Antwortverhalten. So zeigen z.B. bei dem üblichen „Hoppe-hoppe-Reiter-Spiel“ die meisten Kinder vor dem typischen „Plumps“ mit ihrem Verhalten, daß sie die nächste Aktion kennen und heben nach dem „Plumpsen“dann beide Arme, um deutlich zu machen, daß sie eine Wiederholung des Spiels wünschen.

Wenn das Kind in der Lage ist, z.B. auf Fragen „wie groß bist du“ oder „wie gut hat es geschmeckt“ mit entsprechender Gestik zu antworten, nach Aufforderung auf einzelne Körperteile (Nase) zu zeigen und nachzumachen beginnt, ist es möglich, erste Gebärden anzubieten.

Andreas, ein Junge mit Down-Syndrom, lernte im Alter von 25 Monaten als eine erste Gebärde „Hände waschen“. Er spielte gern mit Wasser und fand deshalb Hände waschen angenehm. Vor jedem Waschen wurde die Gebärde mit ihm gemacht und dazu wurde „waschen“ gesprochen. Beim Hände waschen wurde wieder eine der Gebärde entsprechende Bewegung gemeinsam gemacht und gleichzeitig benannt. So konnte der Bezug der Gebärde zur Bezeichnung der Tätigkeit vermittelt werden.

In der einführenden Phase ist in einem natürlichen Kontext eine für das Kind wichtige Sache lautsprachbegleitend mit einer Gebärde auszudrücken. Dabei ist sinnvoll, die Darstellungsform einer vorliegenden Gebärdensammlung zu entnehmen („Schau doch meine Hände an“). Diese ersten Wörter sollten für das Kind unmittelbare Bedeutung haben und möglichst eine häufige situationsbezogene Wiederholung erlauben. Eine Gebärde wird umso leichter gelernt, wenn damit etwas bewirkt werden kann, das bedeutsam ist. Deshalb sind auch weniger Oberbegriffe interessant wie z.B. Essen und Trinken, als die Dinge, die das Kind speziell wünscht, wie z.B. Wurst, Keks oder Saft.

Lisa, ein Mädchen mit Down-Syndrom, erlernte mit 2 Jahren als erste Gebärde „Keks“ und konnte sie bereits nach einer Woche spontan einsetzen. In den folgenden vier Monaten lernte sie 27 neue Gebärden . Lisas erste Gebärdenwörter zeigen deutlich den wichtigen individuellen Bezug:

Keks, Hut oder Haare, Auto, Eisenbahn, Fläschchen oder Schnuller, Turm bauen bzw. spielen, Buch, Vogel, Haus, Käfer, Hase, Stuhl, Flugzeug, Schaukel, Rutschbahn, Schlafen, Weggehen, Elefant, Fisch oder Schiff, Luftballon, Zähneputzen, Waschen oder Baden, Eichhörnchen, Messer, Essen, Schwein.

Interessant ist auch, daß Lisa zu bekannten Abbildungen in ihren Bilderbüchern spontan gebärdet, selbst wenn sie sich allein damit beschäftigt. Mit zunehmendem Gebrauch der Gebärden konnte sie eine Übertragung der Begriffe auf Dinge vornehmen, die gleich bezeichnet werden, obwohl sie unterschiedlich aussehen (z.B. verschiedene Autos, Stühle, Häuser). Mit dieser Generalisierung hatte sie einen wichtigen Schritt in der Sprachentwicklung vollzogen.

Zum weiteren Aufbau der lautsprachbegleitenden Gebärden ist die Berücksichtigung der funktionalen Bedeutung des Wortschatzes wichtig. Das Kind möchte mit den gebärdeten Wörtern etwas erreichen, was ihm wichtig ist. Es ist deshalb nicht eine vorgegebene, an einem fiktiven Durchschnitt angepaßte Reihenfolge in der Vermittlung der Wörter einzuhalten, sondern eine an den Bedürfnissen des Kindes orientierte individuelle Wortauswahl zu treffen. So wie auch Wörter in natürlichem Kontext in ihrer Bedeutsamkeit erlebt werden, sollten auch Gebärden im normalen Zusammenhang mit Handlungen gelernt werden. Die Darbietung der konkreten Dinge, das Erfahren von Ähnlichkeiten zwischen Zeichen und Bezeichnetem unter bewußter Betonung der formbeschreibenden oder tätigkeitsnachahmenden Gebärde erleichtert dem Kind das Erlernen und Behalten. Begonnen wird meistens mit der Aufforderung zum Mitmachen und Nachmachen, evt. auch mit direkter Unterstützung bei der Durchführung der Gebärde. Durch spielerische Wiederholungen bis hin zur „benennenden“ Gebärde erfolgt der weitere Aufbau. Um den spontanen Gebrauch von Gebärden zu unterstützen, kann es hilfreich sein, Situationen zu nutzen oder bewußt zu gestalten, die dem Kind ermöglichen, eine Auswahl zu treffen, etwas zu erbitten, was nicht erreichbar ist, nach etwas zu fragen , was nicht zu sehen ist.

Kerstin ist 2; 10 Jahre alt. Sie läuft seit 7 Monaten, sie kannn sich bücken und einen Ball mit beiden Händen hochnehmen, ein kleines Spielauto kann sie kriechend schieben. Mit ihrer vierjährigen Schwester spielt sie sehr gern und versucht oft, ihr alles nachzumachen.

Einige Wörter kann Kerstin schon sprechen: Mama, Baba, Maime (ihre Schwester Maike), Didi (ihre Puppe), dada, oh, ne-ne (nein) und ne-ne-ne-ne als lautstarker Protest in vielen Situationen.

Sie kann etwa 60 Wörter gebärden, setzt aber nur einige Gebärden spontan zur Mitteilung ein. Allerdings kann sie auf die Frage, was die Mama macht oder wo der Papa ist, die entsprechende Gebärde durchführen. Auch im Spiel oder beim Anschauen eines Bilderbuches zeigt sie auf Nachfragen die richtigen Gebärden.

Die Mutter berichtet, daß die Kommunikation durch die Gebärden sehr erleichtert wird, weil es so viel besser gelingt, herauszufinden, was sie erzählen will oder was sie möchte. So sei sie z.B. wütend zur Mutter ins Zimmer gekommen und hätte laut ne-ne-ne geschimpft. Auf die Frage der Mutter, was los sei, gebärdete sie „Ball“, nach weiterer Nachfrage gebärdete sie dann „weg“. Als die Mutter die Aussage verbalisierte („dein Ball ist weg“), faßte sie die Mutter an und zog sie aus dem Zimmer. Ihre Schwester hatte den Ball auf einen Schrank gelegt, weil Kerstin sie damit immer wieder beim Malen störte.

Als nächstes konnte Kerstin lernen, einige Wörter und Gebärden zu verbinden. Dazu gestalteten wir ein Spiel mit der Puppe und erzählten dabei, was Didi (Name der Puppe) jeweils macht. Kerstin wurde dabei aufgefordert, begleitend zu sprechen und zu gebärden (z.B. Didi ist müde: Kerstin sollte jetzt Didi sprechen und müde gebärden).

In ähnlicher Weise können auch in Alltagshandlungen Gebärden und Lautsprache verbunden werden. Ergänzend können Fotobilderbücher gestaltet werden (gleiche Personen, die verschiedenen Dinge tun). Wichtig ist nur, daß diese Sitationen nicht zu formalen Übungen werden, sondern als gemeinsames Spielen und Erzählen erlebt werden. Deshalb sind solche Verbindungen von gesprochenen Wörtern und Gebärden in gemeinsamen Handlungen am sinnvollsten zu integrieren. So kann das Kind lernen, zwischen Person und Handlung zu unterscheiden, um so die kognitiven Voraussetzungen für den Aufbau von Zweiwortsätzen zu erwerben.

Für die verschiedenen Bezugspersonen des Kindes ( Eltern, Geschwistern, Großeltern, Freunde) kann es günstig sein, die zugehörige Durchführung der Gebärde mit abzubilden und zu beschreiben. Dies individuelle Bilder- und Gebärdenbuch kann ggf. durchaus in Kindergarten und Schule mitgenommen werden, um dort auch anderen Personen Zugang zur besonderen Kommunikationsform des Kindes zu ermöglichen..

Es wird deutlich, daß die Gebärden unterstützte Kommunikation (GuK) gerade für die Arbeit mit jüngeren Kindern mit Down-Syndrom, die sich in der Sprachentwicklung befinden, eine wichtige präverbale Verständigungsmöglichkeit bieten, ohne dadurch eine spätere lautsprachliche Entwicklung zu blockieren.

©1999 Etta Wilken (Mit freundlicher Genehmigung)

Literaturverzeichnis

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