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Was ist Gebärdensprache?

Deutsche Gebärdensprache Was? Wie? Warum? Wozu?

Siegmund Prillwitz

Die Gebärdensprachen Gehörloser sind eigenständige visuelle Sprachen. Sie wurden über Jahrhunderte in der alltäglichen Kommunikation Gehörloser ausgebildet und lassen sich ebenso wie Lautsprachen in nationale Sprachen und regionale Dialekte unterscheiden. So sprechen wir heute z.B. von Amerikanischer, Französischer, Schwedischer, Chinesischer Gebärdensprache und auch von Deutscher Gebärdensprache (DGS) mit Berliner, Hamburger, Münchner und anderen Dialektformen.

Wie alle bisher erforschten Gebärdensprachen verwendet auch die DGS neben Mimik und Körperhaltung insbesondere Handzeichen, die Gebärden. Gebärden sind nach Handform, Handstellung, Ausführungsstelle und Bewegung klar strukturiert und werden regelhaft im sogenannten Gebärdenraum ausgeführt. Die DGS verfügt über einen umfassenden Gebärdenschatz (Lexikon) und eine ausdifferenzierte Grammatik.

Sie kann prinzipiell dasselbe leisten wie jede Lautsprache. Das gilt auch für die Verwendung abstrakter Begriffe, die ja hauptsächlich auf komplexe sprachlich vermittelte Informationen angewiesen sind. Insbesondere dieser reichhaltige spontane Informationsfluß kann über Lautsprache für Gehörlose durchweg nicht hergestellt werden. Die visuelle Gebärdensprache bietet ihnen dagegen eine gleichwertige sichere Grundlage für alle sprachbezogenen Prozesse. Dies gilt insbesondere für den kindlichen Spracherwerb, die soziale Kommunikation, die emotionale und geistige Entwicklung einschließlich aller Gedächtnis-, Denk- und Lernprozesse.

Ein ganz besonderer Stellenwert kommt der DGS als leistungsstarkem und zugleich entspanntem Verständigungsmittel der Gehörlosen untereinander zu. Sie ist gleichsam die Seele der Gehörlosengemeinschaft, die deshalb auch Gebärdensprachgemeinschaft genannt wird. Gebärdensprache ist nicht nur für die soziale Gruppe der Gehörlosen identitätsstiftend, sondern auch für die Identität und Selbstfindung jedes einzelnen Gehörlosen von großer Bedeutung. Im Kontakt mit der hörenden Umwelt können Gebärdensprachdolmetscher/innen in bestimmten wichtigen Situationen eine gleichberechtigte Integration Gehörloser sicherstellen, die sonst aufgrund der zumeist begrenzten Lautsprachfähigkeiten Gehörloser nicht möglich wäre. Dies gilt nicht nur für soziale, politische und kulturelle Veranstaltungen und komplizierte Lebenssituationen (Krankenhaus, Arztbesuch, Behörden, Polizei, Gericht etc.), sondern auch für die berufliche Bildung einschließlich eines in die Regeluniversität voll integrierten Hochschulstudiums.

Von der DGS ist das sogenannte lautsprachbegleitende Gebärden (LBG) zu unterscheiden. LBG ist keine Gebärdensprache, sondern lediglich ein künstliches Verfahren zur besseren Sichtbarmachung der Lautsprache. Parallel zu jedem gesprochenen Wort wird eine möglichst bedeutungsgleiche Gebärde ausgeführt. LBG bedient sich also der Gebärdenzeichen der DGS, ohne jedoch deren Grammatik zu berücksichtigen.Vielmehr setzt LBG eine möglichst gute Lautsprachkompetenz voraus. Es bietet insbesondere für Ertaubte und Schwerhörige eine gute Absehhilfe, die es ihnen erleichtert, die kleinen Mundbilder der gesprochenen Sprache zu entschlüsseln. Darüber hinaus wird LBG auch für pädagogische Zwecke verwendet, wie z.B. beim Schriftspracherwerb in der Schule.

Fazit: DGS ist eine eigenständige leistungsstarke Sprache, die nicht nur für Gehörlose und ihre Gebärdensprachgemeinschaft von hohem Wert ist, sondern darüber hinaus auch für pädagogische, soziale und kommunikative Verwendungszusammenhänge aller Hörgeschädigten von Bedeutung ist.

©1999 Sigmund Prillwitz